Der Jakobsweg
verwirrt ging der Hirt zurück. Am nächsten Abend wiederholte sich die Erscheinung. Als der sternengeschmückte Hirsch zum dritten Mal erschien und an der Quelle wieder traumhafte Musik erklang, benachrichtigte der Schäfer den Bischof von Pamplona. Der Bischof veranlaßte eine Untersuchung, und man fand die silberne Madonna. So geschah es im 10. Jahrhundert.
Kunsthistoriker vermuten heute, daß das mit Silberblech ummantelte Schnitzwerk im 14. Jahrhundert in einer Toulouser Werkstatt geschaffen wurde.
Ich nehme meinen Rucksack auf die Schultern und schaue von der Kirchentür aus auf das Augustinerkloster und den großen düsteren Blockbau des alten Pilgerhospitals zurück. Niemand ist zu sehen. Dem wuchtigen Mauerwerk der Gebäude ist anzumerken, daß es schon vielen Wetterunbilden standgehalten hat. Nur wenige Schritte weiter komme ich an zwei kleinen Kapellen vorbei, der Santiago-Kapelle und der Sancti Spiritus, auch Silo de Carlo Magno genannt, denn hier sollen die Helden der Rolandssage, wie Pater Sampedro behauptet hatte, begraben sein.
Die schmale Straße ist asphaltiert und von Laubbäumen beschattet. Das Gehen bereitet mir Schwierigkeiten. Die Füße schmerzen noch vom gestrigen Gewaltmarsch. Jeder Vorwand ist mir recht, Rast zu machen. Bald ergibt sich einer: Talabwärts steht links an der Straße ein Pilgerkreuz. Das ist das erste Santiago-Kreuz auf dem Weg. Es stammt aus dem 14. Jahrhundert und ist das älteste des camino. Auf einem dreistufigen Sockel erhebt sich eine Säule aus fünf Steinquadern, den Abschluß bildet ein steinernes Kreuz. Verwittert, mit blaugrauen und grünlichen Flechten überzogen, steht es da und ist dennoch zeitlos, gerade so, als ob es noch viele kommende Jahrhunderte überdauern würde. Die Pilgerscharen vergangener Zeit verharrten hier in Andacht und baten um eine glückliche Ankunft in Santiago und um gesunde Heimkehr.
Die schmale Fahrstraße fällt weiter abwärts. Die Orte Burguete, Espinal, Mezquiriz, Ureta, Viscarret und Linzoain haben noch viel von ihrem ursprünglichen baskischen Aussehen bewahrt. Die Menschen grüßen mich freundlich. Sie wissen, daß jemand mit einem Rucksack auf dem Rücken ein Pilger ist, und überrascht fragen sie: »Sola - allein?«
»Claro, como no - klar, warum nicht!« ist meine Standardantwort.
»Que valiente - Oh, wie mutig«, rufen sie bewundernd aus und schütteln doch gleichzeitig mit dem Kopf, sie können nicht verstehen, daß es mir Spaß macht, allein zu wandern. Ein Mann drückt sein Erstaunen so aus: »Pobrecita, tan sola! Este es demasiado aburido. Que lástima, que yo no tengo tiempo - armes Mädchen, so allein! Das ist doch viel zu langweilig. Wie schade, daß ich keine Zeit habe mitzukommen.«
Durch Burguete führt nur eine einzige Straße mit beiderseits weißgekalkten zweistöckigen Häusern. Türen, Fenster und Fensterläden sind oft leuchtend rot oder grün angestrichen. Mitunter finden sich anstatt der Türen auch gewölbte Toreingänge, von Steinen umrahmt und mit steinernen Wappen verziert. Nach Espinal zweigt der Pilgerweg von der wenig befahrenen Straße ab. Der Weg ist nun steinig und schlängelt sich durch ein Hochtal, hebt sich hügelan und fällt wieder ab. Es ist schön, so zu wandern, wenn nur die Beine nicht so schmerzen würden! Bei jedem Halt ziehe ich die Schuhe aus, massiere die geschwollenen Füße und creme sie mit Hirschtalg ein, um Blasen vorzubeugen. An Fersen und Ballen haben sich bereits Druckstellen gebildet. Eigentlich hätte ich genügend Zeit, einen oder mehrere Tage zu pausieren und dem strapazierten Körper Erholung zu gönnen. Doch ich kann nicht lange ruhig dasitzen. Der Frühling ist mir ins Blut geschossen. Es ist ein Frühling in voller Blüte und so viel freie Natur ringsum, wie man sie in Deutschland kaum noch findet! Ein wenig hinkend taumle ich den geschwungenen Weg entlang, wie trunken von den Düften der blühenden Weißdornhecken und den in flammender gelber Blüte stehenden Ginsterbüschen. Aus jedem Busch singen, flöten, pfeifen, jubilieren, schmettern, zwitschern, trällern und trillern Gelbspötter, Mönchsgrasmücken, Stieglitze, Bluthänflinge und selbst die Nachtigallen lassen ihren nächtlich schluchzenden Gesang unter dem wärmenden Licht der Sonne ertönen. Orchideen prunken violett. Schmetterlinge umgaukeln die Blüten. Käfer krabbeln über den Pfad. Zikaden, Grillen und Heuschrecken sirren endlose Lieder. Eine zauberhafte Welt. Wie schön kann die Erde sein! Wenn
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