Der Jakobsweg
freilassen, durch den die Sonne wutentbrannt gewaltige Strahlenbündel schießt.
Ein abgegrenzter Weg ist jetzt nicht mehr vorhanden. Eher ist es ein kaum sichtbarer Pfad über lockeres Kalkgeröll und festen Felsboden. Eine wie vom Wind verblasene Schafherde drängt sich zusammen, aneinander Schutz suchend. Die Pferde scheinen da weniger empfindlich zu sein. Sie stemmen ihre braunen und schwarzen Körper dem Wind entgegen, die hellen Mähnen und Schweife wehen auf wie Signale. Ein hohes Wiehern ertönt, dann galoppieren sie davon, und ich bin wieder allein in dieser vom Wind leergefegten Welt. Am Himmel tobt noch immer der Kampf zwischen den Wolken und der Sonne, da entdecke ich den ersten Bartgeier. Mit breiten Flügeln, so breit und starr wie Holzbalken, segelt er pfeilgeschwind über die Bergkuppen, schnell verliert er sich in der saphirblauen Ferne. Da taucht der zweite auf. Er gleitet ruhiger, majestätischer. Schließlich packt ihn eine Windböe und entführt auch ihn meinem Gesichtsfeld. Neue Geier erscheinen und verschwinden wieder. Ich vermute, es sind immer dieselben, die in weiten Kreisen die Pyrenäen nach Nahrung absuchen. Mit meiner Erscheinung sind sie inzwischen vertraut. Sie kommen weit herunter. Ich sehe das glänzende Auge, die Schönheit jeder einzelnen Feder und höre, wie die Luft durch die kräftigen Schwingen pfeift. Ob der heilige Jakob ein zweites Wunder vorbereitet und einen Geier auf meiner Schulter landen läßt? Spaßeshalber strecke ich den Arm aus, wie ein Falkner, um dem Vogel einen Platz zum Aufbaumen anzubieten. Ach nein, schade, der Geier hat wohl sein Interesse an mir verloren und zieht wieder dem Himmel entgegen.
Ich möchte mich eigentlich ausruhen, doch es ist zu kalt zum Hinsetzen. Nach der Karte habe ich mehr als die Hälfte der Strecke noch vor mir. Nicht verwunderlich, daß diese Etappe bei den Pilgern gefürchtet war. Es sind über 40 Kilometer, nicht zu vergessen die etwa 1000 Höhenmeter, die überwunden werden müssen.
Nach der Karte zu urteilen, führt die französisch-spanische Grenze über den Col de Bentartea. Ich versuche, mich zu orientieren. In dieser weit zu überblickenden Karstlandschaft ragt ein gerundeter Kalkhügel heraus. Das wird er wohl sein, der Col de Bentartea. Ich habe ihn überschritten, doch keine Hinweise auf eine Grenze gesehen, keine Schilder, keine Pfähle. So gehe ich vermutlich bereits auf spanischem Boden. Keine von Menschen markierte Trennungslinie und auch keine landschaftliche Änderung zeigen die Abgrenzung an, und doch befinde ich mich in einem anderen Land. Allein die Vorstellung genügt mir, jetzt in Spanien zu sein, um mir ein Gefühl von Ankunft zu vermitteln. Was verbindet mich ausgerechnet mit diesem Land? Warum weckt der Klang dieses Wortes »Spanien« Empfindungen in mir, als sei es mein Land? Ich komme nicht zum ersten Mal.
Bei meinen früheren Reisen merkte ich, daß die Identifikation aber nicht so weit geht, um hierzubleiben. Vielleicht ist diese gefühlsmäßige Beziehung zu Spanien auch nur durch Einbildungen zu erklären, die sich mir in der Kindheit eingeprägt haben, Visionen von einer exotischen Ferne, in der die Sonne so heiß scheint, daß Apfelsinen auf Bäumen wachsen und reifen können, diese goldenen, aromatischen Früchte, die es nur an Weihnachten gab, gerade dann, wenn es bei uns besonders kalt war.
Der Wind hat sich gedreht und weht mir nun stark von rechts vorne entgegen. Die Wolken haben die Sonne besiegt und verhängen tief die Sicht. Graupelkörner lösen sich aus den schwarzgrauen Wolkenbäuchen und schlagen hart auf die Erde. Es tut weh, wenn die kleinen Eisklumpen auf Gesicht und Hände prasseln. Kein Baum, kein Felsvorsprung, wo ich mich unterstellen könnte.
Es ist Spätnachmittag. Mit nur einer Unterbrechung an der Felsquelle bin ich seit zehn Stunden unterwegs. Ich würde nicht nur gern rasten, sondern überhaupt für diesen Tag die Wanderung beenden. Nach vielen Monaten Schreibtischarbeit bin ich an das Laufen noch nicht wieder gewöhnt. Meine Füße sind eingezwängt in feste Wanderschuhe. Von der Belastung sind sie geschwollen und brennen auch. Hoffentlich reibe ich mir keine Blasen. Auch die Schultern und Hüftknochen, auf denen der Rucksack lastet, schmerzen. Es ist sehr anstrengend, gleich am ersten Tag der Wanderung mit einer langen Gebirgsstrecke zu beginnen. Die Erschöpfung breitet sich in meinem Körper aus, ergreift von mir Besitz. Obwohl ich wünschte, mich einfach niedersinken
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