Der Jakobsweg
zu lassen, zwinge ich mich zum Weitergehen, zwinge mich dazu, immer wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der felsige Boden ist feucht vom Schneegraupel. Der Wind peitscht mir jetzt Regen ins Gesicht. Mühselig schleppe ich mich weiter. Je schwächer mein Körper wird und sich gegen die Anstrengung sperrt, um so unerschütterlicher festigt sich mein Wille. Ich werde laufen, so lange, bis ich Roncesvalles erreiche, nehme ich mir vor. Es bereitet mir Freude, meinem Körper Leistung abzuringen. Ich empfinde Befriedigung, mich der eigenen Grenze anzunähern und zu spüren: Jetzt kann ich nicht mehr - und dann nicht aufzuhören, sondern immer weiterzugehen! Das ist Qual und Lust gleichzeitig. Diese Pyrenäenüberschreitung ist noch Spiel. Zur Not habe ich den Schlafsack gegen die Kälte, und die Biwakhülle schützt halbwegs gegen Nässe. Nur sehr ungemütlich wäre es halt schon. Die lustvolle Qual entwickelt sich erst dann, wenn kein Netz zum Auffangen mehr da ist, wenn sich das spielerische Ausloten der Gefahr in tödlichen Ernst zu wandeln beginnt. Für mich ist das der Augenblick, wo ich beginne, wirklich zu leben. Erst auf diesem schmalen Grat zwischen Leben und Tod merke ich, wie mir das Leben plötzlich wertvoll wird, wert, es zu leben, wert es zu lieben. Um dieses intensive Lebensgefühl öfter zu haben, könnte ich mich auf vielerlei Weise Gefahren aussetzen, doch das fände ich albern. Ich kann die Gefahr nur dann genießen, wenn sie sich aus einer zufällig ausgelösten Auseinandersetzung mit der Natur ergibt. Als Kind war es mein Lieblingsspiel, mir Katastrophen auszumalen: Riesige Überschwemmungen, Vulkanausbrüche, Erdbeben und Bergstürze, Waldbrände und Hungersnöte. Gegenüber diesen wilden Phantasien schien mir die Wirklichkeit fade und trostlos. Nicht nur, daß ich an keinen Schöpfer mehr glauben kann, ich sehe auch keinen übergeordneten Sinn im Leben. Das Leben kann schön sein, ich weiß. Ich denke an die kleine Rötelmaus, die sich vertrauensvoll in meine Hand kuschelte, oder an den Bartgeier, der wie eine Erscheinung über mir schwebte. Erlebnisse wie diese sind Augenblicke des Glücks, sie machen das Leben nicht sinnvoller, wohl aber erträglicher. Obwohl ich das Leben so Gering achte, hält es sich an mir fest. Oder bin ich es selbst, die sich im letzten Moment doch immer noch festgehalten hat?
Nun bin ich wieder an einem Ende angelangt. Vielleicht ist diese Pilgerwanderung ein Versuch des Festhaltens, eine Bitte, am Leben bleiben zu können, ein Suchen nach Sinn? Ich habe ein Ziel: Santiago. Es ist ein weiter Weg. Bis ich dort ankomme, kann viel passieren. Aber nicht die Ankunft in Santiago ist wichtig. Ich kann nicht wie die Menschen im Mittelalter darauf hoffen, daß mir dort ein Wunder begegnet. Was ich suche, muß ich unterwegs finden.
Beschäftigt mit meinen Gedanken und erschöpft vom Laufen, habe ich kaum auf den Weg geachtet. Nun meine ich, zu weit nach links abgekommen zu sein. Mit Kompaß und Karte stelle ich fest, daß ich mich auf der alten Römerstraße befinden müßte. Sie führt auch nach Roncesvalles, doch nicht über den Ibañetapaß. Umzukehren kommt wegen der bald beginnenden Nacht nicht in Frage.
Die Römerstraße ist kein gepflasterter Fahrweg, wie damals vielleicht einmal, sondern ein grasbewachsener, schmaler Pfad. Steil führt er nach unten, in die mit Wäldern bedeckten Südhänge der Pyrenäen. Ich bleibe stehen und schaue zurück. Die jetzt tiefhängende Sonne blitzt am Rande der Wolkenbänke hervor. Die Strahlenbündel treffen auf einen hohen Grat. In der dunkelgrauen Umgebung leuchtet er wie mystisch erhellt in goldener und smaragdgrüner Färbung. Und gerade in diesem Moment ziehen Schafe über den Grat, eins hinter dem anderen. Weiße Gestalten, umgeben von dem goldgrünen Leuchten, durchschreiten sie wie in einer schweigenden Prozession den Lichtkreis und verschwinden langsam in der einsamen Weite.
Ich folge der Römerstraße weiter abwärts und gelange in einen seltsamen Wald. Es sind Buchen mit braunen vertrockneten Blättern. Gespenstisch ist dieser Anblick, überall nur Bäume, deren Blätter an den Ästen abgestorben sind, als hätte ein Drache seinen Glutatem ausgespien.
Jetzt wabert Nebel und umhüllt die Buchen und ihre toten Blätter. Schemenhaft nur kann ich die Stämme erkennen. Gleich Schattenbildern formen sie dunklere Strukturen im nebligen Grau. Nun verhüllen die Nebelschleier die verdorrten Laubkronen vollständig. Kein Ast
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