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Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs

Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs

Titel: Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Timmerberg
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antwortete der Ex-Major für mich. Und machte gleich weiter: Ich bräuchte Gummistiefel und müsse sie jede Nacht über einen Ast stülpen, sonst sei am nächsten Morgen eine Schlange drin. Der Wald sei voll mit Schlangen. Die großen fallen von den Bäumen und erwürgen dich, die kleinen beißen. «Schon mal was von der Bushmaster gehört, Gringo?» fragte der Ex-Major. «Sie hat vier Giftzähne und ist die einzige Schlange, die mehrmals zubeißt, und auch die einzige, die dich aufgerichtet verfolgt.»
    Der Problemkatalog für die anstehende Reise wuchs mit jedem Getränk, um nicht zu sagen: Er schwoll an. Außer den Gefahren, die von der artenreichen Tierwelt drohten, gebe es noch gefährliche Flüsse, gefährliche Sümpfe, gefährliche Abgründe, über die ich rübermüsse, und gefährliche Menschen. Die Goldsucher selbst seien alle potentiell gefährlich, die Räuber, die den vom Camp zurückkehrenden Goldsuchern im Wald auflauerten, seien supergefährlich, und dann sei da noch ein Streckenabschnitt, in dem der Weg über die grüne Grenze nach Venezuela führe, einen Bogen mache und man erst nach etwa drei Tagesmärschen wieder brasilianisches Territorium erreiche. Drei, vier Tage seien die Goldsucher also illegal im Regenwald des Nachbarlands, und dafür habe die venezolanische Armee wenig Verständnis.
    «Sie läßt Helikopter über dem Dschungel patrouillieren», sagte Rico.
    «Die schießen auf dich, wenn sie dich sehen», sagte der Ex-Major.
    «Er wird trotzdem gehen», sagte sein Leibwächter. «Und es wird ihm nichts passieren.»
    Der Mann war Halbindianer, vielleicht lag es daran, daß er etwas in mir sah oder an mir oder um mich herum, was die anderen nicht mitbekamen. Braucht es Indianeraugen, um Schutzengel zu sehen? Oder konnte er die Nähe des Todes riechen, und jetzt roch er nichts? Ich habe später immer wieder mal darüber nachgedacht, warum ich diesen Trip überlebt habe. Glück war das nicht. So viel Glück ist Schicksal. Denn alles, wovor sie mich an diesem Tisch gewarnt haben, traf im Wald ein, sogar noch ein bißchen mehr. Inzwischen denke ich, mein Überleben am Oberlauf des Rio Negro beweist, daß der Tod vorbestimmt ist. Daß Ort und Zeit festgelegt sind. In und um São Gabriel machte ich mir darüber keine Gedanken. Es war kein Mut, auch keine Blödheit, es war einfach nur das Gefühl, für eine Weile unverwundbar zu sein. Auf eine unschuldige, naive Art hatte ich hier vor nichts Angst, und das wird’s gewesen sein. Alle Jäger, ob Tier oder Mensch, brauchen die Angstreflexe der Opfer, damit die Jagd beginnen kann. Das hört sich ziemlich theoretisch an, aber meine erste Begegnung mit einem schwarzen Jaguar bestätigte diese Theorie hundertprozentig.
     
    Es geschah ein paar Tage später, etwa dreißig Kilometer nördlich von São Gabriel. Wir waren noch nicht einmal im Wald und auf dem Weg, sondern direkt davor. Die andere Seite der Lichtung begrenzte die Straße nach Kolumbien, auf der wir mit dem Bus gekommen waren. Die Lichtung galt als Treffpunkt der Goldsucher. Hier formierten sie sich vor ihrem Aufbruch, hier warteten sie darauf, daß die Gruppe zu groß für den Jaguar wurde oder ein Fluß, der Hochwasser führte, wieder abschwoll. Es gab ein Hängemattenlager und ein Marketender-Zelt und vielleicht fünf Minuten entfernt eine Art Badeteich mit sauberem Wasser, in dem sie sich wuschen und schwammen. Um ihn zu erreichen, mußte man auf die Straße zurück und rund fünfzig Meter nach links gehen. «Aber wirf Steine rein, bevor du schwimmst», sagten die Goldsucher, «das vertreibt die Krokodile. Und wirf auch Steine rein, wenn du keine siehst. Krokodile sieht man im Wasser eigentlich nie.» Ich machte es auf meine Art. Ich warf Steine rein und ging nicht schwimmen. Ich setzte mich an den Teich, um ein bißchen mit mir allein zu sein und meinen Gedanken nachzuhängen.
    Den Jaguar sah ich auf dem Rückweg zur Lichtung. Etwa zehn Meter vor mir kam er von links aus dem Wald und überquerte die Straße. Er blickte mich an, ich blickte ihn an, aber irgendwie erkannte ich in ihm nichts, was in den kommenden Sekunden zu einer rotierenden Kettensäge hätte werden können, sondern ich nahm ihn als einen großen Hund wahr, der wie eine Katze aussah. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht lag es daran, daß ich auf einer Straße keine Raubtiere vermutete. Rechts und links war jede Menge Regenwald, aber die asphaltierte Straße vermittelte mir die Illusion von Zivilisation. Ich sah den schwarzen

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