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Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs

Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs

Titel: Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Timmerberg
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konnte nicht einfach geradlinig ihren Stimmen hinterherlaufen, ich mußte dem Pfad folgen, sonst wäre ich in Dornen, Gestrüpp und anderen Fangstricken des Unterholzes hängengeblieben. Um nicht auch den Pfad noch zu verlieren, ging ich langsamer und langsamer und blieb bald stehen, weil ich ihn trotzdem verloren hatte. Inzwischen hörte ich die anderen nicht mehr. Pfad weg, Gruppe weg, ab sofort konnte jeder Schritt in die falsche Richtung eine bisher noch nicht erwähnte Gefahr heraufbeschwören: Verirren im Regenwald. Es gab keinen vernünftigen Grund dafür, warum ich jemals allein hier herausfinden sollte. Ich war kein Goldsucher, ich war kein Waldläufer, ich war kein Indianer, und Rambo war ich auch nicht. Alles hier erinnerte mich an seine Filme, die im Dschungel spielen, aber, ich sage es gern noch einmal, ich war nicht Rambo, für mich war Verirren im Regenwald der falsche Film. Um in meinen Film zurückzukommen, mußte ich zur akustischen Notbremse greifen. Die Goldsucher hatten es mir beigebracht. Man schreit «Huhu-huhu-hu!» mit der Oberstimme und so laut man kann. Es hört sich ein bißchen so an wie der Schrei eines in Bedrängnis geratenen Affen. Und kommt aus einiger Entfernung ein ähnlicher Schrei zurück, weiß man in etwa, wo die Gruppe ist – oder der Affe. Wird man erneut unsicher, was die richtige Richtung betrifft, schreit man wieder und wieder, aber man sollte das wirklich nur im Notfall machen, denn diese Schreie, egal ob von Kumpels oder Affen, hört auch der Jaguar. Und der Jaguar ist nicht blöd. Er hört, du bist allein.
    Regenwald ist nicht gleich Regenwald. Er hat verschiedene Seinszustände. In diesem Abschnitt der Etappe schien er hauptsächlich aus jungen Bäumen mit dünnen Stämmen zu bestehen, so dünn wie Stangen. Man sah darin eigentlich immerzu etwas in Bewegung, erst recht bei Anbruch der Dunkelheit. Das konnte ein Tier, eine Pflanze oder ein Lichtphänomen sein. Für jeden, der nun Angst bekam, wurde der Stangenwald zum bösen Wald. Eine Orgie optischer Täuschungen bemächtigte sich meiner, flankiert von Gedanken wie diesen: Auf der Straße hat er mich nicht als Opfer identifizieren können, weil ich mich nicht wie ein Opfer verhielt, in der Nacht hat er sich nicht getraut, den letzten Sprung zu machen, weil wir zu dritt waren und zwei von uns Macheten hatten, jetzt bin ich allein, habe keine Machete und verhalte mich wie das Opfer schlechthin. Ich gehe schneller, ich haste, ich laufe, stolpere und laufe weiter durch den Stangenwald in Richtung des letzten «Huhu-huhu-hu!», das als Antwort gekommen war, und sah dabei immer wieder, mal rechts, mal links von mir, den Jaguar wie einen Schatten, der mich mühelos begleitete.
    Pedro holte mich aus der Angst. Und brachte mich gleich wieder rein. Er war plötzlich vor mir aufgetaucht. «Gringo», rief er, «vamos!» Als er näher bei mir war, sah ich: Der Halbindianer hatte dieselbe Scheißangst wie ich. Um ein Haar hätte ich ihn wieder verloren, so schnell lief er voraus. Das spricht für ihn als Waldläufer und gegen ihn als Führer, unterm Strich brachte er mich heil aus dem Stangenwald heraus und zurück zur Gruppe. Einmal Todesangst pro Tag – war es das, woran ich mich gewöhnen mußte? Und an den Frieden danach?
    Sie hatten eine kleine Lichtung ausgesucht, einen Bach gab es auch. Ein paar der Männer pfählten die Stämme junger Bäume und rammten sie in der Mitte der Lichtung in einer Formation in die Erde, die es zuließ, daß man Hängematten aufspannen und Plastikplanen drüberlegen konnte. Andere waren mit den Vorbereitungen fürs Kochen beschäftigt, wieder andere wuschen sich und ihre Klamotten, Amazon kümmerte sich um das Feuer. Es war nur die Betriebsamkeit eines Camps im tiefen Wald, aber sie wirkte auf mich wie die Betriebsamkeit eines kleinen Dorfes, einer kleinen menschlichen Siedlung. Ist es nicht wunderbar, daß sich wilde Tiere vor dem Feuer fürchten? Und vor vielen Stimmen? Sie fürchten sich auch vor dem Lachen, vielleicht fürchten sie sich davor sogar am meisten, weil es nicht in ihre Welt paßt. Kein Tier lacht. Fröhliche Menschen wirken deshalb auf sie etwas fremdplanetarisch, dazu kommt, daß Raubkatzen überaus vorsichtig agieren, weil sie Jäger sind. Sie können sich keine Verletzungen leisten. Kein verwundeter Jäger fängt irgendwas. Der Schein des Feuers lag wie ein Schutzschild über unserem Lager, und wir hatten rundum einen Sicherheitsabstand von etwa zehn beleuchteten Metern bis

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