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Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs

Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs

Titel: Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Timmerberg
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vermieten. Andere Goldsucher, die in der umgekehrten Richtung unterwegs waren, würden es am Ende der ersten Tagesetappe übernehmen und zur Lichtung zurückbringen. Groß genug, um das gesamte Gepäck der Gruppe plus vier Menschen aufzunehmen, lag es tief im Wasser und war schwer voranzubringen. Mit mir im Kanu: der irre Rambozona und zwei Typen, die erst gestern auf die Lichtung gekommen waren. Ein Indianer und ein Halbchinese. Der Fluß, nicht breiter als zehn, zwölf Meter, ging, bereits fünf Minuten nachdem wir unsere Paddel in ihn getaucht hatten, in eine Kurve, und von der Gruppe, dem Fotografen, dem Lager auf der Lichtung, der Straße, der Zivilisation und dem Rest der mir bekannten Welt war nichts mehr zu sehen. Ich hatte geglaubt, mich seit unserer Abreise aus Manaus langsam und vernünftig an den Wald akklimatisiert zu haben. Auf dem Flußdampfer, in Feuerkopfs Schnellboot, in der Bar von São Gabriel, im Bus auf der Straße nach Kolumbien – täglich hatte ich ihn näher rücken sehen, und auf der Lichtung hatte ich eine Woche direkt vor ihm gestanden, gesessen und geschlafen. Ich fühlte mich bereits mit ihm vertraut. Aber schon hinter der ersten Biegung war da dann doch mehr Wald als vermutet, zu beiden Seiten des Flusses und über ihm. Selbst vom Boot aus konnten wir den Himmel nicht mehr sehen. Der Kokain-Pilot hatte mich gewarnt, aber ich hatte es vergessen. «Es gibt keinen Himmel im Regenwald. Und du wirst ihn vermissen.» Hinter diesem undurchsichtigen Grün konnte sich alles verbergen, was der Wald an Feinden zu bieten hatte, oder auch nicht. Es war ungewiß.
    Das andere Phänomen war die Dunkelheit. Auf der Lichtung hatte gerade ein heller, sonniger Tag begonnen, hier war es finster. Und in der Nacht würde es stockfinster sein, weil eine Welt ohne Himmel auch keinen Mond und keine Sterne hat. Heute, morgen, übermorgen, wochenlang. Wie reagiert die Seele auf den Entzug von Licht? Sie konzentriert sich auf die Ausnahmen. Hier ein Teppich von Sonnenflecken, da eine kleine Lichtinsel, dort ein Strahlengitter. Auf der Erde, auf den Blättern, auf dem Wasser. Und vor allem auf dem Wasser malte das Licht mit zauberhaften Farben. Aber auch mit gruseligen. Kommt drauf an, was in dem Wasser ist. Und was es da macht. Ob es wächst oder verwest, blüht oder verfault, vermoost oder verschlammt. Von zauberhaft bis gruselig, von wunderschön bis schaurig-schön reicht die Palette, wenn das Licht es bis in die unterste Etage des Regenwaldes schafft. Und was man hört, ist ähnlich extrem: Hier plätschert was, da gurgelt es, da entweicht zischend Dampf. Das ist kein Wald, dachte ich, das ist die Gebärmutter der Welt.
    Obwohl vier Männer paddelten, kamen wir nur langsam voran. Auf einem Kanu im Regenwald braucht man nicht nur Paddel, sondern auch Macheten, damit es weitergeht. Weil sich alle paar Meter ein Baum zu tief über den Fluß legt oder gleich ganz rein. Weghauen, wegschieben, wegbiegen, weiterrudern, und nachdem wir das etwa zwei Stunden gemacht hatten, fing der Streß an.
    Das Kanu sank.
    Noch war es nicht untergegangen, aber es kam weiter Wasser herein, und wenn man bedenkt, daß hier gerade alle Nahrungsmittel der Gruppe und ihr gesamtes Werkzeug im Fluß zu verschwinden drohten, versteht man die Logik meiner Freunde: Das darf auf keinen Fall passieren, das einzige, was hier untergehen darf, bist du. Und schon war ich im Wasser. Es soll allerdings nicht unerwähnt bleiben, daß die Goldsucher ebenfalls aus dem Kanu sprangen. Sie hatten sich und mich als Ballast abgeworfen, das Boot kam wieder hoch, trotzdem entspannte sich die Situation nicht sofort. Vier Männer strampelten mit den Beinen im Fluß und hielten sich am Kanu fest, und drei von ihnen bekreuzigten sich dabei. Ich nicht. Ich hatte nichts gesehen. Ich hatte nur was gefühlt, war mit dem Fuß gegen irgendwas gestoßen, als ich ins Wasser fiel, mehr nicht, und es war auch gleich weg.
    «Hinter dir!» schrie Rambozona. «Hinter dir!»
    Als ich mich umdrehte, sah auch ich endlich das Krokodil. Es peitschte den Fluß mit seinem Schwanz, es flüchtete vor mir. Wieso das denn? Rambozona, der inzwischen wieder lachte, erklärte es mir:
    «Krokodile sind es nicht gewohnt, daß ihr Essen auf sie springt. Hast du ein Glück!»
    Glück? Das Krokodil ward nicht wieder gesehen, aber ich war noch immer bis zur Brust in einem Fluß, durch den in großen Schwärmen kleine Fische mit scharfen Zähnen ziehen. Piranha-Alarm im Gehirn und keine

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