Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs
zum Unterholz. Sollte dort tatsächlich ein Jaguar lauern, würde er schnell sehen, daß er wenig Chancen hat, einen Angriff gegen zwölf mit Macheten, Messern, Äxten und Gewehren bewaffnete Menschen unverwundet zu überstehen.
Die Zeit der Hängematten brach an. Wir saßen oder lagen in ihnen, aßen leckeren Reis mit Bohnen, tranken sauberes Wasser, rauchten das Gras der Dealerin und erzählten Geschichten. Ich spielte dazu ein bißchen Gitarre, aber wirklich nur ein bißchen, weil ich todmüde war und bald nichts besser fand, als in der Hängematte die Kehrseite des Adrenalins zu genießen. Es fühlte sich fast wie Opium an. Die Stimmen, der Regen, das Leben. Dieses Leben. Und ich begann, mich ganz leise danach zu sehnen, daß es ewig so bleibt. Ich begann, den Wald zu lieben.
Den Wald lieben heißt, ihn als Lehrer zu akzeptieren. Was er lehrt, ist einerseits Kämpfen und Überleben und andererseits hinzusehen, was er gibt. Ein Indianer braucht nichts außer dem Wald, um satt zu werden, eine Familie zu gründen, glücklich zu sein. Die Goldsucher sind sicher noch nicht soweit, und wenn man sie fragt, wollen sie es auch gar nicht soweit bringen, im Gegenteil, sie wollen Gold, trotzdem registrieren sie den Effekt. Je größer ihre Fähigkeiten werden, im Wald zu überleben, desto kleiner werden die Zwänge der Zivilisation. Kein Boß, keine Miete, keine Polizei, keine Geldsorgen, weil man sowieso keins braucht. Den Wald zu lieben bedeutet, die Freiheit zu lieben, die er schenkt, und ich denke, das war es, worum es mir in den nächsten Tagen und Nächten ging. Die Nächte blieben so paradiesisch wie diese, die Tage wurden weniger höllisch. Und ich verlor die Gruppe nicht mehr. Lag es daran, daß es sich besser durch etwas geht, das man mag, oder daran, daß meine Kondition zunahm, oder daran, daß der Weg leichter wurde? Es lag wie immer an allem auf einmal, und etwas Viertes kam hinzu: Ich war nicht länger nur in den Augenblicken der Gefahr, der Anstrengung und der Erschöpfung im Hier und Jetzt, es wurde normal. Ich ging von früh bis spät über Stock und Stein, Bach und Sumpf, Berg und Tal und verlor meine Vergangenheit. Woher ich kam, wer ich war, mein Job, mein Schreiben, meine guten wie meine schlechten Taten begannen im Wald ähnlich unwichtig zu werden wie die Vergangenheit von Amazon. Oder die von Elisabeth. Die übrigens inzwischen an der Seite des Kolumbianers ging und ihre Hängematte neben seine spannte, mir aber trotzdem bei jeder Gelegenheit schöne Augen machte. Ich hackte am Ende eines dieser Tage gerade Zwiebeln für Siete, der sich zum Chefkoch der Gruppe entwickelt hatte, als mir die Mulattin wieder einmal lächelnd einen verträumten Blick zuwarf. Siete hatte ihn auch gesehen und mein Problem sofort verstanden. «No problem», sagte er. «Wenn dir der Kolumbianer heute nacht die Kehle durchschneidet, dann schneiden wir morgen seine durch, amigo.»
Freunde, das nennt man doch wohl Freunde. Im Wald findest du die Wahrheit über einen Mann heraus. Und alles in allem sah die Wahrheit der Goldsucher bisher recht gut für mich aus. Pedro hatte mich allein aus dem Stangenwald geholt, obwohl er selbst vor Angst zitterte, und Siete würde, wie die meisten anderen Brasilianer der Gruppe, bei einem Konflikt zwischen den beiden Ausländern zum Exoten und nicht zu dem Goldsucher aus seinem Nachbarland halten, weil der Exot a) unterhaltsamer war und b) Schokolade hatte. Schokolade gilt in Goldsucherkreisen viel. Sie holt dich sofort aus der Erschöpfung heraus. Und du kannst sie gehend essen, Schokolade bringt dich voran, aber sie ist auch teuer. Die Goldsucher besaßen keine, nur der Fotograf und ich. Jeder von uns hatte zu Beginn des Weges neun Jumbotafeln Vollmilch-Nuß im Rucksack und eine Packung am Körper. Eine Woche später hatte ich die Hälfte meiner Schokolade aufgebraucht, weil ich freigebig bin. Immer wenn ich mir einen Riegel gönnte, gab ich jedem, der mich darum bat, auch ein Stück, in der Regel sogar zwei, denn bei nur einem Stück schämte ich mich. Der Fotograf dagegen gab den Goldsuchern von seiner Schokolade nie etwas ab. Er versteckte sich in den Büschen oder hinter einem Baum, wenn er sie aß. War das seine Wahrheit im Wald? «Diese Leute brauchen keine Schokolade», sagte er, als ich ihn darauf ansprach. «Die sind nicht wie wir. Die haben Mägen wie Pferde.»
Und wie Pferde hatte er sie beladen. Jeden Tag baten ihn Pedro und Bobo darum, den starken Indianer als dritten
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