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Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs

Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs

Titel: Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Timmerberg
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Wänden, die Wände selbst, sogar die Luft, das Licht und die Musik in diesem Raum lösten sich vor und in meinen Augen in ihre Grundbausteine auf. Ich sah etwa dreihundertfünfzig Trilliarden Atome in dieser zwanzig Quadratmeter großen Dachmansarde. Und jedes einzelne strahlte wie bekloppt. Das Paradies für Atomphysiker. Die Kombination von Hendrix und LSD hatte mir den wissenschaftlichen Beweis erbracht, daß ich grundbausteintechnisch unsterblich bin.
    Das Paradies für Tänzer (LSD in der Diskothek), das Paradies für Pfadfinder (LSD am Lagerfeuer), das Paradies für Filmliebhaber (LSD auf der Bounty), so ging es Stockwerk für Stockwerk, Trip für Trip nach oben, und dann, ich weiß noch genau, wann, änderte der Fahrstuhl seine Richtung, und es ging nur noch nach unten, auch Stockwerk für Stockwerk, aber wenn jetzt die Fahrstuhltür aufging, stand die ausführliche Inspizierung einer höllischen Etage an. Wir nannten das Horrortrip.
    Der erste verlief noch relativ normal. Ich ging durch die Straßen der Stadt und glaubte, daß jeder, der ein Motorrad fuhr, etwas gegen mich hatte, ein Glaube, der irgendwann zu Panik wurde. Mit gezügeltem Adrenalin haute ich ab, schnell wurde ungezügelt daraus, denn die Hells Angels folgten mir auf Schritt und Tritt. Warum? Weil ich Angst hatte. Das ist ein Gesetz. Angst zieht Höllenengel an. Schwamm drüber. Ich brauchte nur einmal zu schlafen, und der Spuk war vorbei. Erstaunlich, was die Nerven aushalten, wenn man sechzehn, fast siebzehn ist. Zudem veränderte sich der Horror, wurde subtiler, auch literarisch interessanter, Trip für Trip, Stockwerk für Stockwerk. Hölle für Fußgänger, Hölle für «Playboy»-Leser, Hölle für Straßenbahnfahrer.
    Die Straßenbahn fuhr nicht ab. So etwas passiert. Sie stand vor dem Hauptbahnhof, fünf Minuten Warten ist da normal, wenn man Pech hat, werden zehn Minuten draus. Auf LSD, so lehrt die Karstadt-Erfahrung, bedeutet das sechshundert Ewigkeiten, und durch jede brüllt die Frage: Warum fährt die Bahn nicht ab? Es gab andere Fahrgäste, das beruhigte ein bißchen, aber wenn ich ihnen in die Augen blickte, sah ich entweder dieselbe Frage oder gar nichts. Irgendwann wechselte das Ganze die Ebene und wurde, wie oben angekündigt, literarisch. Ich saß in der Straßenbahn, als sei es ein Roman von Sartre. Wer stirbt, geht zum Amt für Tote, und wenn die Formalitäten erledigt sind, geht er zur Hintertür wieder raus. Alles auf den Straßen, die er nun entlangläuft, sieht wie auf den Straßen der Lebenden aus. Auch die Bahn. De facto ist es aber das Totenreich. Die Angst, bereits gestorben zu sein, beinhaltet einen anderen Schrecken als die Angst vor dem Tod.
    Und zwar folgenden: Die Tür der Straßenbahn ging noch einmal auf, und der Typ, der einstieg, sah exakt so aus wie ich. Mein Doppelgänger? Mein Zwillingsbruder? Mein zweites Ich? Mein böses Ich? Die unausweichliche Begegnung beim Jüngsten Gericht? Fährt deshalb die Bahn nicht ab, weil das Urteil noch nicht gefällt wurde? Zum Teufel, nach ’ner Mütze Schlaf war auch das Thema vom Tisch. Statt dessen kam der «Playboy» drauf. Schon mal einen «Playboy» auf LSD angesehen? Ich habe mich reingesehen. Inzwischen Profi im Umgang mit Phänomenen wie Zeit und Raum, brach ich zu einer Reise in die Vergangenheit auf und beamte mich in das Auge des Fotografen. Ich gab die Anweisungen, wie sich das Playmate des Monats zu bewegen hatte. Später wurden Befehle draus. An und für sich nennt man so etwas keinen Horrortrip. Das trotzdem Bedenkliche daran: Es war keine Halluzination. Es war wahr. Ich war da. Ich hatte mir durch Zeit und Raum das Spatzenhirn des Fotografen gegriffen, um das Spatzenhirn des Models zu manipulieren. Das nennt man Schwarze Magie, und die wird mit Wahnsinn bestraft.
    Wahnsinn hatte ein Gesicht. Mein Spiegelbild. Ich schaute nicht mehr hin. Aber Wahnsinn hatte noch andere Gesichter. In dieser Phase meiner LSD-Karriere konnte ich in jedem den Wahnsinn sehen. Alter egal, Geschlecht egal, sozialer Status egal, in jedem lauerten Neurosen, Psychosen, schizophrene Bestien, eingekerkert, angekettet, mühsam gebändigt, aber ständig präsent. In den Augen, in den Bewegungen, in der Körperhaltung. Darum verbot ich mir LSD unter Menschen. Ich ging in den Wald. In der Nacht. Allein. Ich zündete mir eine Zigarette an. Das Streichholz wurde zum Zauberstab. Ich hatte nur eine Schachtel dabei, und nachdem alle Zauberstäbe entzündet und erloschen waren, sah ich den

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