Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs
sie, weil es alle taten, zwei Tage bevor die Panzer der Roten Armee in Prag einrollten. Na ja, es können auch zwei Wochen vorher gewesen sein, so genau weiß ich das nicht mehr. Woran ich mich dagegen sehr gut erinnern kann, sind die Tage nach dem Überfall auf die ČSSR. Ein Klassenausflug der Berufsschule Bielefeld. Im Sommer 68. Nach Amsterdam. Oder Adam, wie ich später sagte. Oder, noch später, Amsterdamned. Man beachte den Fluch.
Die Räder des Reisebusses rollten zum Erschrecken der Lehrer vor Fenstern aus, in denen Huren saßen. Dazwischen klemmte das Studenten-Hotel. Und weil die Pädagogen es nach dem gemeinschaftlichen Abendessen nicht übers Herz brachten, uns den Ausgang zu verbieten, nahmen die Dinge eben ihren Lauf. «Bitte immer rechts entlang an den Grachten», sagte das Schicksal, «und dann treiben lassen. Und zwischendurch ein bißchen ficken darfst du auch.»
Sex & Drugs. Zwischen der Halbchinesin in schwarzer Minimalgarderobe und dem ersten Joint meines Lebens lagen gut zwei Kilometer regennasses Kopfsteinpflaster. Stand das irgendwo geschrieben, mußte das so sein, folgte ich unsichtbaren Zeichen kreuz und quer durch das Zentrum von Amsterdam, um das Paradies zu betreten? Mit einem o am Ende in diesem Fall. Das «Paradiso», eine ehemalige Kirche, die von der Amsterdamer Kulturbehörde in ein Jugend- und Veranstaltungszentrum umfunktioniert worden war, veranstaltete an jenem Abend den ersten psychedelischen Massenevent des alten Kontinents. Ich wußte nichts von der Welle, die von Kalifornien über London nach Amsterdam geschwappt war, ich wußte nichts von der Bedeutung dieses Sommers, und ich wußte nichts von diesem Konzert. Aber irgendwer hatte einen Autopiloten in mir programmiert. Wer? Er? Ich glaube an Gott, also glaube ich auch an den Teufel. Einer von beiden ist es gewesen. Als ich vor der Kirche stand, wunderte ich mich, daß sie bunt bemalt war, und ich wunderte mich auch über die reinkarnierten Jesusse vor der Tür.
Drinnen eine Mischung aus Lazarett, Orgie und Eurhythmie, also Selbstfindung im Tanz, auch machtverliebte Luftgitarre und Luftficken. Alle machten Liebe, tanzend oder liegend. Es war heiß, schwül, süß, eine Duftmischung aus vielen Essenzen, und dort, wo früher der Altar gestanden hatte, masturbierten fünf Jungs in schwarzem Leder an ihren Mikrophonständern. Eigentlich war als Höhepunkt des Schulausflugs ein Besuch im Rembrandt-Museum geplant. Was daraus wurde, war ein legendäres Konzert von Steppenwolf. Das erste auf ihrer ersten Europatournee. Und zack, der erste Joint. Und zack, angestellt. Bewußtsein eingeschaltet. Zentralfunktion aktiviert. Ich war da. WIEDER DA. Ich ahnte, woher ich kam, ich ahnte, wohin ich ging. Es machte Sinn. Es machte Spaß. Es machte geil. Auch übel. Detaillierteres war zu diesem Zeitpunkt nicht zu erfahren. Es ging halt Joint für Joint.
Erster Joint: rauchen und kotzen.
Zweiter Joint: rauchen und kotzen.
Dritter Joint: rauchen und kotzen.
Vierter Joint: rauchen und kotzen.
Fünfter Joint: rauchen und kotzen.
Sechster Joint: rauchen und kotzen.
Siebter Joint: rauchen und nicht mehr kotzen.
Haschisch. Warum haben Naturdrogen so schöne Namen? Haschisch, Opium, Coca, Mescal. Man kann das auch anders fragen: Warum beginnt die Verführung bereits mit der Sprache, mit dem Klang? Mir war, als würde die Droge, meine Zunge benutzend, sich selbst den Namen geben. Haaaaaaaschiiiiiiiiiiiisch. Das Geheimnis der Haschimiden, eines Volks im Vorderen Orient, dessen Krieger Cannabis zu sich nahmen, bevor sie kämpften, ritten und die Säbel in Blut tränkten. Born to be wild. Born for Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll. Daß wir das Ganze «Love and Peace» genannt haben, war ein Mißverständnis.
Drei Tage später stand ich wieder vor dem Personalchef der Textilfirma. Es war (fast) wie immer. Er sagte: Haare ab!, und dann kam das (fast) zum Tragen, denn ich sagte o. k. Noch in der Mittagspause ging ich zum Friseur und ließ mir eine Glatze schneiden. Ein Wahnsinnsakt. Sie waren das einzige, wofür ich bisher gekämpft hatte, ein jahrelanger Krieg, zu Hause, im Betrieb. Für nichts anderes hatte ich mich geradegemacht, nur für die langen Haare wäre ich gestorben; außerdem gefielen sie den Frauen. Während der Figaro entzückt sein Schlachtfest zelebrierte, hielt ich die Augen geschlossen. Als ich sie öffnete, habe ich mich zu Tode erschrocken. Ich sah zum Erschießen aus, aber so schlimm kam es dann doch nicht. Ich
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