Der Joker
ich. Ich erinnere mich an den Namen, denn er ist auf dem Grabstein erwähnt.« Er murmelt vor sich hin, während wir jetzt mit schnellen Schritten ans andere Ende des Friedhofs gehen. »Milla, Milla …«
Der Strahl der Taschenlampe fährt über einen Grabstein, und da steht es:
James Johnson
1917-1942
gefallen für sein Vaterland
geliebter Ehemann von Milla Johnson
Etwa zehn Minuten stehen wir da und das Licht bringt den Grabstein zum Leuchten. Ich versuche, mir vorzustellen, wo und wie genau er starb, und mir wird klar, dass die arme Milla seit über sechzig Jahren ohne ihn lebt.
Ich weiß es genau.
Kein Mann ist je wieder in ihr Leben getreten. Nicht so wie Jimmy.
Sie hat mehr als sechzig Jahre darauf gewartet, dass Jimmy zurückkommt.
Und jetzt ist er da.
9
Das barfüßige Mädchen
Trotzdem muss ich weitergehen.
Millas Geschichte ist wunderschön und tragisch, aber ich habe noch andere Botschaften, die ich überbringen muss. Die nächste Aufgabe erwartet mich in der Macedoni Street 6, um halb sechs morgens. Einen Moment lang überlege ich, ob ich mich erst um die Edgar Street kümmern soll, aber ich bin immer noch zu sehr erschrocken über das, was ich dort gesehen und gehört habe. Ich kehre noch einmal dorthin zurück, um nachzusehen, ob sich etwas verändert hat. Hat es nicht.
Gemeinsam mit der Sonne erreiche ich an einem Morgen
Mitte Oktober die Macedoni Street. Der Frühling war in diesem Jahr bislang ungewöhnlich warm, und es ist bereits angenehm mild, als ich in der Straße ankomme. Ich sehe schon das zweistöckige Haus hoch oben auf dem Hügel.
Kurz nach halb sechs verlässt eine einsame Gestalt das Haus. Ich glaube, es ist ein Mädchen, bin mir aber nicht sicher, weil die Gestalt eine Kapuze über den Kopf gezogen hat. Sie trägt rote Sportshorts, einen grauen Kapuzenpullover, aber keine Schuhe. Sie ist etwa eins siebzig groß.
Ich setze mich zwischen zwei geparkte Autos und warte darauf, dass die Gestalt zurückkommt.
Als ich das Warten schließlich aufgebe und mich auf den Weg zur Arbeit mache, kommt sie (es ist definitiv ein Mädchen) um die Ecke gerannt.
Den Kapuzenpulli hat sie ausgezogen und um die Taille gebunden und jetzt kann ich ihr Gesicht und ihre Haare sehen.
Ich erschrecke, weil wir beinahe zusammenstoßen.
Beide bleiben wir einen Moment lang stehen.
Ihre Augen landen auf mir, nur für den Bruchteil einer Sekunde.
Sie schaut mich an. Sie hat sonnenscheinfarbenes Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden ist, und klare Augen, wie Wasser. Das sanfteste Blau, das ich je gesehen habe. Weiche Lippen, die sich zu einem zarten Erkennen kräuseln.
Und sie rennt weiter.
Ich schaue zu, wie sie den Kopf nach unten neigt und sich abwendet.
Ihre Beine sind rasiert - eigentlich hätte ich von Anfang an erkennen müssen, dass es sich um ein Mädchen handelt. Die Beine sind lang und herrlich. Sie ist eines jener Mädchen, die von oben bis unten schnurgerade gewachsen sind. Schlank, mit kleinen, aber schön geformten Brüsten, einem langen Rücken und schmalen Hüften. Ihre bloßen Füße sind mittelgroß und laufen leicht und fast schwerelos über den Boden.
Sie ist schön.
Sie ist schön und ich schäme mich.
Sie ist vielleicht fünfzehn, und ich fühle mich, als hätte mich jemand getreten. Fühle mich getroffen, zerschmettert, von innen heraus. Gefühle von Liebe und Lust streiten in meinem Herzen miteinander, und ich merke, dass ich mich wie magisch von diesem Mädchen angezogen fühle, das morgens um halb sechs barfuß durch die Straßen läuft. Ich kann mich ihr nicht entziehen.
Ich gehe nach Hause und überlege, was sie braucht, was ich ihr geben muss. Ich versuche es per Ausschlussverfahren. Wenn sie auf dem Hügel wohnt, braucht sie kein Geld. Ich glaube auch nicht, dass sie einen Freund braucht, aber wer weiß das schon?
Sie läuft.
Es hat etwas damit zu tun. Ganz sicher.
Jeden Morgen bin ich da, aber ich verstecke mich. Ich glaube nicht, dass sie mich sieht.
Eines Tages beschließe ich, dass es Zeit ist, unsere Beziehung zu vertiefen. Ich folge ihr. In meinen Jeans, meinen Stiefeln und einem alten weißen T-Shirt. Sie ist weit vor mir.
Das Mädchen frisst die Meter.
Ich kämpfe mich voran.
Als ich angefangen habe zu laufen, fühlte ich mich, als ob ich in einem olympischen Vierhundertmeterfinale stünde. Jetzt fühle ich mich so, wie sich ein kleinstädtischer Taxifahrer fühlt, der jahrelang keinen Sport mehr getrieben
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