Der Joker
einer Ernsthaftigkeit, die hypnotisierend wirkt. Nicht über Gott, sondern über die Menschen
in dieser Stadt, die einander die Hand reichen sollen. Die gemeinsam Dinge tun sollen. Einander helfen. Und einfach nur zusammenkommen. Er lädt sie ein, genau das jeden Sonntag in seiner Kirche zu tun.
Joe, Graeme und Joshua versuchen sich an ein paar Lesungen. Sie machen das nicht besonders gut und lesen ziemlich langsam, aber danach werden sie beklatscht wie Helden, und man kann sehen, wie stolz ihre Gesichter leuchten. Man sollte nicht glauben, dass dies dieselben Typen sind, die einen auf der Straße um Geld, Zigaretten und abgewetzte Lederjacken anhauen.
Ich frage mich, ob Tony wohl gekommen ist. Als ich mich in der Menge umschaue, fällt mein Blick auf Sophie. Wir beide heben kurz die Hand, dann hört sie wieder dem Priester zu. Tony kann ich nirgends entdecken.
Zum Schluss stimmt Vater O’Reilly jenes alte Lied an, das die meisten schon in der Schule gelernt haben und das daher fast jeder kennt: »He’s Got the Whole World in His Hands«. Alle singen und klatschen im Takt, und als das Lied zu Ende ist, sehe ich Tony.
Er schiebt sich durch die Menge und stellt sich neben mich.
»Hallo, Ed«, begrüßt er mich. An jeder seiner Hände hängt ein Kind.
»Gibt’s auch Limo?«, fragt er. »Für die Kinder?«
»Klar.«
Es dauert noch fünf Minuten, da sieht mich Vater O’Reilly mit Tony ganz hinten in der Kirche stehen.
Er ist nun am Ende seiner Predigt angekommen und noch immer hat er kein Gebet gesprochen. Doch jetzt schickt er sich dazu an.
Er sagt:
»Leute, ich werde jetzt beten, erst laut und dann still für mich. Ihr dürft jedes Gebet sagen, das ihr mögt oder das euch wichtig ist.« Er neigt den Kopf und spricht: »Herr, ich danke dir. Ich danke dir für diesen glorreichen Moment und für all diese großartigen Menschen. Ich danke dir für das Freibier.« (Die Menge lacht.) »Und ich danke dir für die Musik und die Worte, die du uns heute geschenkt hast. Vor allem aber, Herr, danke ich dir, dass mein Bruder heute hier sein kann, und ich danke dir für einen ganz bestimmten jungen Mann, der eine ganz fürchterlich hässliche Lederjacke trägt... Amen.«
»Amen«, wiederholen die Menschen.
»Amen«, sage ich, etwas zeitverzögert, und jetzt bete ich, wie so viele andere auch, zum ersten Mal seit Jahren.
Ich bete : Bitte, lieber Gott, mach, dass es Audrey gut geht. Und auch Marv und Ritchie und Ma und meiner ganzen Familie. Bitte nimm meinen Dad in deine Arme, und bitte, bitte hilf mir mit den Botschaften, die ich noch zu überbringen habe. Hilf mir, dass ich alles richtig mache ...
Etwa eine Minute später spricht der Priester die letzten Worte der Predigt.
»Danke euch allen. Und jetzt kann die Party losgehen.«
Die Menge tobt.
Ein letztes Mal.
Ritchie und Marv grillen. Audrey und ich schenken Bier aus. Vater O’Reilly versorgt die Kinder mit Essen und Trinken. Keiner kommt zu kurz, in jeder Beziehung.
Als Speisen und Getränke verzehrt sind, holen wir die Karaoke-Maschine hervor und die Leute singen ganz viele
unterschiedliche Lieder. Ich bleibe ziemlich lange bei Milla, die ein paar Mädels entdeckt, wie sie sich ausdrückt. Sie meint ein paar alte Damen, mit denen sie zur Schule gegangen ist. Sie setzen sich auf eine Bank, und eine von ihnen hat so kurze Beine, dass die Füße über dem Boden schweben. Sie kreuzt ihre Fußgelenke und schaukelt mit den Beinen, und das ist der schönste Anblick, der mir an diesem Tag vergönnt ist.
Ich kann sogar Audrey dazu überreden, mit mir ein Lied zu singen - »Eight Days a Week« von den Beatles. Ritchie und Marv bringen mit ihrer Version von »You Give Love a Bad Name« von Bon Jovi die Menge zum Toben. Irgendwie lebt wohl diese ganze Stadt in der Vergangenheit, zumindest was die Musik betrifft.
Ich tanze.
Ich tanze mit Audrey, Milla und Sophie. Es ist großartig, sie herumzuwirbeln und das Lachen in ihren Stimmen zu hören.
Als es vorbei ist, bringe ich Milla nach Hause, komme dann wieder zurück und helfe aufräumen.
Das Letzte, was ich an diesem Tag sehe, sind Thomas und Tony O’Reilly, die auf den Stufen vor der Kirche sitzen und zusammen rauchen. Vermutlich wird es einige Jahre dauern, bis sie einander wiedersehen, aber dieser Augenblick genügt fürs Erste.
Ich wusste gar nicht, dass Vater O’Reilly raucht.
9
Die Bullen kreuzen auf
In dieser Nacht bekomme ich Besuch, zunächst von Vater O’Reilly und später von der
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