Der Judas-Code: Roman
haben selbst darauf hingewiesen, dass die Khmer die leuchtende Höhle als Heimstatt eines Gottes betrachtet haben könnten. Vielleicht als Vishnus Heimstatt.«
Vigor blickte dem Commander direkt in die Augen. »Oder aber Susan war ein Vorgeschmack auf jenes größere Geheimnis und hat uns einen flüchtigen Blick auf das in uns allen schlummernde Potenzial ermöglicht.«
Gray zuckte mit den Schultern; offenbar wollte er das Thema damit abschließen. Doch wie Vigor gehofft hatte, zeigte sich noch eine andere Regung in seinem Gesicht: Neugier. Er wollte, dass Gray die Dinge unvoreingenommen betrachtete.
Gleichwohl bekam er mit, dass Gray mit den Gedanken woanders weilte. Er verabschiedete ihn mit einer Handbewegung.
Als Gray durch die Tür trat, rief er ihm nach: »Grüßen Sie Seichan von mir.«
Gray geriet ins Stolpern und runzelte die Stirn. Dann war er weg.
Vigor setzte die Lesebrille wieder auf.
Ach, die Jugend...
12:20
Gray reichte dem Wachposten vor Seichans Tür einen Becher Kaffee. »Ist sie wach?«
Der Mann, ein junger Leutnant aus Peoria, hob die Schultern. »Keine Ahnung.«
Gray öffnete die Tür. Für den Leutnant war das ein öder Job. Da die Nähte aufgeplatzt und innere Blutungen aufgetreten waren, hatte Seichans Schussverletzung ein weiteres Mal operiert werden müssen. Seitdem stand die Patientin unter Beruhigungsmitteln.
Und das alles nur deshalb, weil sie Gray das Leben gerettet hatte.
Er erinnerte sich, wie Seichan ihn getragen und mit ihren Armen umfangen hatte. Da hatte er noch nicht geahnt, dass sie die Rettungsaktion beinahe mit dem Leben bezahlt hätte.
Er trat ins Krankenzimmer.
Seichan lag im Bett, ihre Arme waren mit Handschellen gefesselt. Sie trug ein Nachthemd und war mit einer weißen Decke zugedeckt.
Der Raum, in dem normalerweise Geisteskranke untergebracht waren, wirkte steril und kalt. Die einzigen Einrichtungsgegenstände waren das Bett und ein Nachttisch auf Rollen. Das hohe, schmale Fenster war mit einem Stahlfensterladen gesichert.
Seichan regte sich. Sie wandte den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich, und sie schlug die Augen nieder. Offenbar schämte sie sich, weil sie gefesselt war. Dann flammte ihr Ärger auf und ließ alle anderen Empfindungen verdampfen. Sie zerrte an einer Handfessel.
Gray setzte sich auf die Bettkante.
»Auch wenn meine Eltern überlebt haben«, kam er gleich zur Sache, »heißt das noch lange nicht, dass ich Ihnen verzeihe. Das werde ich Ihnen niemals verzeihen. Dennoch stehe ich in Ihrer Schuld. Ich werde nicht zulassen, dass Sie sterben. Jedenfalls nicht so.«
Gray zog den Handschellenschlüssel aus der Tasche. Dann ergriff er ihr Handgelenk und hob es an. Unter den Fingerspitzen spürte er ihren schnellen Pulsschlag.
»Morgen früh sollen Sie nach Guantanamo überführt werden«, sagte er.
»Ich weiß.«
Ihnen beiden war klar, dass das für sie das Todesurteil bedeutet hätte. Wenn man sie nicht gleich hinrichtete, würde die Gilde oder ein anderer Geheimdienst sie zum Schweigen bringen. Der israelische Mossad hatte immer noch Anweisung, sie zu töten.
Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Die Handschelle schnappte auf.
Seichan setzte sich misstrauisch auf.
Sie streckte die Hand nach dem Schlüssel aus, stellte ihn auf die Probe.
Er gab ihr den Schlüssel. Während sie die andere Handschelle aufschloss, legte Gray das Paket aufs Bett, das Kowalski ihm gegeben hatte.
»Hier sind drei Garnituren zum Anziehen drin: Ein Krankenschwesternkittel, Sachen, wie die Einheimischen sie tragen, und etwas zur Tarnung. Außerdem Geld in hiesiger Währung. Einen Ausweis konnte ich Ihnen nicht besorgen, dafür war die Zeit zu knapp.«
Die zweite Handschelle sprang auf. Seichan massierte sich die Handgelenke.
Vor der Tür ertönte ein dumpfer Knall.
»Ach, und den Wachposten habe ich betäubt.«
Seichan sah zur Tür, dann fasste sie wieder Gray in den Blick. Ihre Augen funkelten. Ehe er reagieren konnte, packte sie ihn beim Kragen und zog seinen Kopf zu sich herunter. Sie küsste ihn leidenschaftlich und teilte die Lippen. Ihr Mund schmeckte irgendwie medizinisch.
Gray zuckte unwillkürlich zurück. Er hatte nicht die Absicht gehabt, sie...
Ach, zum Teufel...
Er legte ihr die Hand ins Kreuz und drückte sie an sich. Ohne ihn loszulassen, kletterte sie auf seinen Schoß und setzte die Füße auf den Boden. Er drehte sich herum und ließ sich zurücksinken.
Dann klickte eine Handschelle.
Seichan
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