Der Judas-Code: Roman
Toilettentisch aus Kirschbaumholz gerollt war.
Er hob ihn auf.
Ein rotes Medikamentenfläschchen. Leer.
Er warf einen Blick aufs Etikett. Der Name des Patienten lautete Jackson Pierce.
»Sie waren hier«, murmelte er gepresst und richtete sich auf.
Dr. Corrin hatte nicht gelogen. Er hatte ihnen die Wahrheit gesagt - oder das, was er für die Wahrheit gehalten hatte.
»Sie sind weitergezogen«, sagte er und ging zurück ins Schlafzimmer.
Er ballte die Hand um das Fläschchen zur Faust und schluckte seine Verärgerung hinunter. Commander Pierce hatte ihn schon wieder reingelegt. Erst mit dem Obelisken, jetzt mit der Verlegung seiner Eltern.
»Was nun?«, fragte Annishen.
Er reckte das Tablettenfläschchen.
Ihre letzte Chance.
07:30
Istanbul
»Vorweg erst mal eine Frage«, sagte Seichan. »Was wissen Sie über Marco Polo?«
Sie hatte eine blau getönte Sonnenbrille aufgesetzt. Die Sonne stand inzwischen so hoch, dass ein Teil des Dachrestaurants in
blendende Helligkeit getaucht war. Sie hatten an einem ruhigen Ecktisch unter einem Sonnenschirm Platz genommen.
Gray bemerkte das Zögern in ihrer Stimme - und vielleicht auch einen Anflug von Erleichterung. Sie schwankte zwischen dem Wunsch, ihr Wissen für sich zu behalten, und dem Drang, sich von dieser Bürde zu befreien.
»Polo hat im dreizehnten Jahrhundert gelebt und war Entdecker«, antwortete Gray. Auf dem Herflug hatte er einiges über den Mann gelesen. »Zusammen mit seinem Vater und seinem Onkel verbrachte Marco zwanzig Jahre als Ehrengast des mongolischen Kaisers Kublai Khan in China. Nach der Rückkehr nach Italien im Jahre 1295 erzählte Marco seine Reiseerlebnisse dem französischen Schriftsteller Rustichello, der sie niederschrieb.«
Marco Polos Buch Die Beschreibung der Welt wurde in Europa auf Anhieb ein großer Erfolg. Seine fantastischen Erzählungen von den unermesslichen, menschenleeren Wüsten Persiens, den wimmelnden Städten Chinas, weit entfernten, von nackten Götzenanbetern und Zauberern bewohnten Ländern und von Kannibalen und exotischen Tieren bevölkerten Inseln eroberten den ganzen Kontinent. Das Buch beflügelte die Fantasie Europas. Selbst Christoph Columbus hatte es bei seiner Entdeckungsreise in die Neue Welt dabei.
»Aber was hat das mit den derzeitigen Entwicklungen zu tun?«, schloss Gray.
»Sehr viel«, antwortete Seichan und ließ den Blick über die Anwesenden schweifen.
Vigor trank einen Schluck Tee. Kowalski hatte das Kinn auf die Hand gestützt und tat gelangweilt, doch Gray entging nicht, dass er aufmerksam bei der Sache war. Vermutlich war auch in seiner Persönlichkeit der eine oder andere ungehobene Schatz verborgen. Zerstreut verfütterte er ein paar Krümel Teegebäck an die Spatzen.
Seichan fuhr fort: »Marco Polos Erzählungen waren nicht so eindeutig, wie die meisten Leute glaubten. Der Originaltext existiert nicht mehr, nur Abschriften von Abschriften sind erhalten. Und die zahlreichen Übersetzungen und Bearbeitungen weisen erhebliche Unterschiede auf.«
»Ja, davon habe ich gelesen«, unternahm Gray den Versuch, die Unterhaltung zu beschleunigen. »Es gibt so viele Unvereinbarkeiten, dass ich mich frage, ob Marco Polo überhaupt existiert hat oder ob er nicht nur die Erfindung eines französischen Schriftstellers ist.«
»Er hat existiert«, erklärte Seichan mit Nachdruck.
Vigor nickte. »Ich kenne die Argumente, die gegen Marco Polo vorgebracht wurden. Seine Schilderungen Chinas weisen erhebliche Lücken auf.« Der Monsignore hob die Tasse. »Zum Beispiel wurde die Teeleidenschaft des Fernen Osten nicht erwähnt. Dieses Getränk war in Europa damals noch unbekannt. Das gilt auch für die Praxis des Fußbindens und den Gebrauch von Essstäbchen. Marco erwähnt nicht einmal die Chinesische Mauer. Das sind bedeutsame Auslassungen, die Anlass zu Skepsis geben. Viele Dinge aber schildert er durchaus zutreffend, zum Beispiel die Herstellung von Porzellan, das Heizen mit Kohle und den Gebrauch von Papiergeld.«
Der Monsignore war sich seiner Sache anscheinend sicher. Vielleicht ging ja der Nationalstolz des Italieners mit ihm durch, doch Gray spürte, dass seine Gewissheit tiefer gründete.
»Wie dem auch sei«, meinte er, »was geht uns das an?«
»In sämtlichen Ausgaben von Polos Buch gibt es noch eine weitere bedeutsame Auslassung«, sagte Seichan. »Sie betrifft Marcos Rückkehr nach Italien. Kublai Khan gab den Polos eine Eskorte mit, die eine mongolische Prinzessin namens Kokejin zu ihrem
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