Der Judas-Code: Roman
Blick wieder.
»Ich weiß, ich habe Sie im Ungewissen gelassen«, sagte sie. »Sobald Monsignor Verona eingetroffen ist, werde ich alles erklären.« Sie nickte. »Aber was ist mit Ihnen? Haben Sie bezüglich der Inschrift auf dem Obelisken Fortschritte gemacht?«
Er zuckte mit den Schultern und tat so, als wüsste er etwas.
Sie musterte ihn forschend - dann seufzte sie. »Na schön.«
Sie ging zurück zum Tisch.
Seichan hatte Gray Fotos und eine Kopie der Engelschrift zur Verfügung gestellt. Auf dem Herweg hatte er versucht, den Code der Inschrift zu entschlüsseln, doch es gab einfach zu viele Variablen. Er brauchte mehr Informationen. Außerdem vermutete Gray, dass er den Inhalt der Botschaft schon kannte: Öffne den Obelisken und finde den darin verborgenen Schatz.
Das hatten sie bereits getan.
Gray trug das silberne Kruzifix an einer Schnur um den Hals. Er hatte es bereits untersucht. Es war sehr alt und wies starke Gebrauchsspuren auf. Unter dem Vergrößerungsglas war keine Inschrift zu erkennen gewesen, nicht der geringste Hinweis, der
Seichans wilde Behauptung bestätigt hätte, das Kreuz habe einmal dem Beichtvater des Weltreisenden und Forschers Marco Polo gehört.
Gray, der allein am Geländer stehen geblieben war, betrachtete die trotz der frühen Tageszeit bereits betriebsame Stadt. Die Straßen wimmelten von Bussen, Autos und Fußgängern. Das Hupen übertönte die Rufe der fliegenden Händler und das unaufhörliche Geplapper der Touristen, die schon auf den Beinen waren.
Er musterte die unmittelbare Umgebung, hielt Ausschau nach einer Bedrohung oder verdächtigen Personen. Hatten sie Nasser abgeschüttelt? Nachdem sie um die halbe Welt gereist waren, war Seichan in dieser Beziehung ganz zuversichtlich. Gray aber war entschlossen, in seiner Wachsamkeit nicht nachzulassen. Auf dem Hof des Hotels erhoben sich zwei Männer von ihren Gebetsteppichen und verschwanden im Hotel. Ein Kind planschte selbstvergessen im Springbrunnen der Lobby.
Gray ließ den Blick ein wenig höher schweifen. Das Hotel Ararat lag mitten in der Istanbuler Altstadt, dem Sultanahmet-Viertel. Bis ans Meer ragten historische Gebäude wie Inseln aus dem Straßengewirr hervor. Dem Hotel unmittelbar gegenüber leuchteten die prächtigen Kuppeln der Blauen Moschee unter dem wolkenlosen Himmel. Ein Stück weiter die Straße entlang war eine mächtige byzantinische Kirche halb unter einem schwarzen Baugerüst verschwunden. Es sah aus, als wollten die Metallstreben das Gebäude an den Busen der Erde hinunterziehen. Und noch ein Stück weiter lag inmitten von Höfen und Gärten der Topkapi-Palast.
Gray spürte das Gewicht dieser großartigen architektonischen Meisterwerke und Geschichtsmonumente. Unbewusst betastete er das Kreuz an seinem Hals. Es stammte ebenfalls aus einer fernen Vergangenheit und war aufgeladen mit Geschichte. Was aber hatte es mit der globalen Bedrohung zu tun, von der Seichan gesprochen hatte? Ein Kreuz, das früher einmal Marco Polos Beichtvater gehört hatte?
»He, Ali Baba!«, rief hinter ihm Kowalski. »Noch ein Glas von diesem Lakritzgesöff.«
Gray stöhnte unterdrückt.
»Das nennt man raki«, mischte sich jemand ein.
Gray drehte sich um. Eine bekannte und hochwillkommene Gestalt trat aus dem schattigen Treppenhaus auf die Dachterrasse. Monsignor Verona sprach den Ober höflich auf Türkisch an. » Bir sise raki lütfen.«
Der Ober nickte und entfernte sich lächelnd.
Vigor näherte sich dem Tisch. Gray fiel auf, dass er diesmal keinen Priesterkragen trug. Offenbar reiste der Monsignore inkognito. Ohne den Kragen wirkte der sechzigjährige Vigor um zehn Jahre verjüngt. Vielleicht lag es aber auch an seiner lässigen Kleidung: Bluejeans, Wanderstiefel und ein schwarzes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Außerdem hatte er einen alten Rucksack dabei. Er machte den Eindruck, als sei er bereit, den Berg zu erklimmen, nach dem das Hotel Ararat benannt war, und sich auf die Suche nach der Arche Noah zu machen.
Vielleicht hatte der Monsignore diese Bergtour tatsächlich schon einmal gemacht.
Vor seiner Ernennung zum Vorsteher des Vatikanischen Geheimarchivs war Vigor als Archäologe für den Heiligen Stuhl tätig gewesen. Diese Stellung hatte es ihm erlaubt, dem Vatikan auch noch auf andere Weise zu dienen. Getarnt als Archäologe, hatte er ungehindert und ausgiebig reisen und geheimdienstlich für den Heiligen Stuhl arbeiten können.
Außerdem hatte Vigor in der Vergangenheit auch schon für Sigma
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