Der Judas-Code: Roman
leicht aus der Fassung bringen zu lassen. Außerdem hatte er bereits begriffen, worauf Seichan hinauswollte.
»Das Zeichen des Drachenordens«, sagte er. »Sie haben es auf den Boden gemalt. Ich dachte, das sei eine an mich gerichtete Warnung, eine Aufforderung, die Engelschrift zu untersuchen.«
Seichan nickte und lehnte sich zurück. Seinem Blick entnahm sie, dass er begriffen hatte.
»Doch da steckte mehr dahinter«, fuhr er fort. Er dachte an den Mann, der vor ihm dem Vatikanischen Geheimarchiv vorgestanden hatte: Dr. Alberto Menardi, ein Verräter, der im Dienst des Drachenordens gestanden hatte. Während seiner Amtszeit hatte er zahlreiche Schriften aus dem Archiv verschwinden lassen und in die Privatbibliothek einer Burg in der Schweiz geschafft. Gray, Seichan und Vigor waren an der Enttarnung des Mannes und der Vernichtung dieser Sekte des Drachenordens beteiligt gewesen. Die Burg war in den Besitz der Veronas übergegangen, eine verfluchte Besitzung mit einer langen, blutigen Geschichte.
»Albertos Bibliothek, die in der Burg untergebracht war«, sagte Vigor. »Als uns die Polizei nach all dem Blutvergießen und dem Grauen erlaubt hat, die Räumlichkeiten zu inspizieren, stellten wir fest, dass die Bibliothek nicht mehr da war. Sie war einfach verschwunden.«
»Wieso habe ich davon nichts gehört?«, fragte Gray überrascht.
Vigor seufzte. »Wir nahmen an, das wäre das Werk von Dieben gewesen... oder ein Fall von Korruption in den Reihen der italienischen Polizei. In der Bibliothek des Verräters gab es zahlreiche kostbare Antiquitäten. Und zahlreiche Bücher mit Geheimwissen, denn dafür hat Alberto sich besonders interessiert.«
So sehr Vigor den ehemaligen Archivleiter verabscheute, musste er doch anerkennen, dass Alberto ein brillanter Kopf gewesen war, ein Genie aus eigenem Recht. Und da er dreißig Jahre lang dem Archiv vorgestanden hatte, kannte er dessen Geheimnisse. Falls er tatsächlich eine Ausgabe von Marcos Beschreibung der Welt mit einem Zusatzkapitel entdeckt haben sollte, hatte er den Wert des Fundes sicherlich einzuschätzen gewusst.
Doch was hatte der alte Präfekt in dem Buch gelesen? Was hatte ihn veranlasst, es zu entwenden? Was hatte sein Interesse und das der Gilde geweckt?
Vigor musterte Seichan aufmerksam. »Das waren keine gewöhnlichen Diebe, welche die Bibliothek ausgeräumt haben, nicht wahr? Sie haben die Gilde davon unterrichtet, welche Schätze dort zu finden waren.«
Seichan besaß die Unverfrorenheit, angesichts dieses Vorwurfs nicht einmal mit der Wimper zu zucken. »Ich hatte keine andere Wahl. Vor zwei Jahren habe ich mir mit der Bibliothek das Leben erkauft, nachdem ich Ihnen beiden geholfen hatte. Damals wusste ich noch nicht, welches Grauen sie barg.«
Gray hatte den Wortwechsel schweigend, aber aufmerksam verfolgt. Vigor meinte beinahe zu sehen, wie es in seinem Schädel arbeitete. Wie Alberto war auch Gray ein heller Kopf und verstand es, disparate Elemente in einen neuen Zusammenhang zu bringen und sie miteinander zu verknüpfen. Kein Wunder, dass Seichan sich an ihn gewandt hatte.
Gray nickte ihr zu. »Sie haben diesen Text gelesen, Seichan. Die wahre Geschichte von Marco Polos Rückkehr.«
Statt zu antworten schob sie den Stuhl zurück, beugte sich vor und öffnete den Reißverschluss des linken Stiefels. Aus einem Geheimfach zog sie drei gefaltete Papierseiten hervor. Sie richtete sich auf, glättete die Papiere und legte sie auf den Tisch.
»Als ich begriff, was die Gilde vorhat«, sagte sie, »habe ich eine Kopie des übersetzten Kapitels angefertigt.«
Vigor und Gray beugten sich Schulter an Schulter über den Text. Auch der hünenhafte Seemann neigte sich über das Papier; sein Atem roch nach Anis.
Vigor las die Überschrift und die ersten Zeilen.
Kapitel LXII
Von einer unerzählten Reise und einer geheimen Landkarte
Und so geschah es, dass wir einen ganzen Monat nach unserem letzten Hafenaufenthalt Frischwasser aufnehmen und unsere beiden Schiffe instand setzen wollten. Wir gingen in kleinen Booten an Land und staunten über die vielen Vögel und die dicken Kletterpflanzen. Auch unsere Vorräte an Pökelfleisch und Obst
waren erschöpft. Wir hatten zweiundvierzig Männer des Großkaans dabei, bewaffnet mit Speeren und Pfeil und Bogen; da die umliegenden Inseln von nackten Götzenanbetern bewohnt waren, die Menschenfleisch verzehrten, hielten wir es für geraten, Vorsorge zum Schutz unserer körperlichen Unversehrtheit zu
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