Der Judas-Schrein
umgeben von der Marmoreinfassung des Grabes.
Körner trat an den Rand der Grube. »Guten Morgen!«
Hans Apfler rammte den Spaten in die Erde und stützte sich mit dem Ellenbogen auf den Griff. »Morgen.« Er betrachtete Körner und seine Begleiterin von oben bis unten. Dabei prasselte ihm der Regen auf den Hut und lief ihm über das Gesicht und die Schultern. »Schau einer an, der junge Körner! Bist groß und hager geworden, Junge.« Er spuckte auf den Boden. »Kommst nicht oft hierher, und die kleine Marli erzählt auch nicht viel über dich. Trotzdem reden die Leute.«
»Was denn?«
»Was man halt so spricht. Hast den Ort verlassen, als deine Eltern starben … und jetzt, wo du wieder hier bist, schnüffelst du angeblich in unserem Leben herum.« Er spie erneut auf den Boden. »Wundert mich nicht, wenn die Leute über dich reden.«
Der alte Apfler hatte sich in den letzten siebenundzwanzig Jahren kein bisschen verändert. Schon damals war er der griesgrämige Totengräber von Grein mit der Schnapsnase und dem zerknautschten Gesicht gewesen, vor dem sich die Kinder zu Tode gefürchtet hatten. In der Zwischenzeit waren seine Haare grauer, die Augenringe dunkler und die Haut an Kinn und Hals faltiger geworden, doch sonst war er, wie es schien, der Gleiche geblieben: ein mürrischer, alter Griesgram, der die Abende am liebsten mit einer Flasche Schnaps im Totengräberhäuschen verbrachte. Für die Jungens war der Friedhof tabu gewesen. Bei Nacht über den Zaun zu klettern, an Apflers Hütte vorbei und zwischen den Grabreihen zu schleichen kam einer Mutprobe gleich.
»Wohnst jetzt in Wien, was?«, fragte der Greis.
Körner nickte. Er nahm es dem Totengräber nicht einmal übel, dass er ihn duzte. In den Augen des Alten war Körner bestimmt noch der Rotzbengel, der er vor dreißig Jahren gewesen war.
»Wie lange werden Sie noch brauchen?«, fragte Körner.
Der Alte massierte sich das stoppelige Kinn und bohrte mit der Stiefelspitze im klumpigen Lehm. Körner sah, dass ihm der Matsch zentimeterdick auf der Sohle klebte. Der Totengräber warf ihm einen missmutigen Blick zu. »So lange, bis wir fertig sind.«
Solche Antworten liebte Körner. »Und wann wird das sein?«
Apfler zog die Schultern hoch. »Das Mädchen wurde erst vor zwei Jahren beerdigt. Das Erdreich hat sich noch nicht gesetzt, da gräbt es sich leichter. Schätze ein bis zwei Stunden.«
Körner sah auf die Armbanduhr. »In Ordnung.« Der Totengräber sah ihn verwundert an. »Wirst doch nicht hier warten, was?«
»Natürlich.«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Weiß nicht, was das bringen soll, wenn wir ausgerechnet bei diesem Sauwetter graben … aber bitte.« Er rammte den Spaten in die Erde und schaufelte weiter Lehm aus der Vertiefung. Wie auf Kommando nahmen auch die beiden Burschen ihre Arbeit wieder auf.
Körner stand reglos an der Einfassung des Grabes, sah den Männern bei der Arbeit zu und wartete. Er ließ die Hände in den Manteltaschen verschwinden und spürte, wie die Glock schwer an seiner Seite zog. Ein seltenes aber dennoch vertrautes Gefühl durchströmte ihn. Normalerweise ließ er die Waffe im Wagen, doch bevor er mit Sabriski vom Frühstücksraum des Braunen Fünfenders aufgebrochen war, hatte er das Schulterholster angelegt. Er wusste nicht, weshalb er die Waffe an sich genommen hatte, doch seit Basedov verschwunden war und er die Platzdecke mit der Stickerei entdeckt hatte, war er sich sicher, dass ihnen in diesem Ort alles Mögliche passieren konnte … und darauf wollte er vorbereitet sein.
Nach eineinhalb Stunden stießen sie auf die Oberkante des ersten Sarges. Bis dahin hatte sich das Wetter permanent verschlechtert. Die dunklen Regenwolken hingen so tief, dass der Himmel wie ein schwerer dicker Mantel auf die Anhöhe drückte. Sogar die Bergspitze des Hohen Gschwendts lag in graue Schlieren eingebettet und war nicht mehr zu erkennen. Auf der anderen Seite, jenseits der Trier, zuckten die Blitze am Horizont. Es schien, als entlade sich das Gewitter aus der schwarzen Wolkenbank und fahre direkt ins Wasser. Der Donner krachte so gewaltig, dass Körner bei jedem Schlag zusammenzuckte. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht und der Wind zerrte an seinem Mantel. Obwohl er die Hände tief in die Taschen grub, waren sie klamm vor Kälte.
Nur der Kopf des alten Apflers ragte noch aus der einen Meter fünfzig tiefen Grube. »Die Kiste ist noch ganz«, knurrte er und stapfte mit dem Stiefel auf den Deckel.
In der Grube war
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