Der Judas-Schrein
intensiver Fäulnisgestank entgegen. Umso erstaunlicher war es für Körner, als er plötzlich in das zur Gänze erhaltene, bleiche Antlitz eines jungen Mädchens blickte. Die Ähnlichkeit zu Sabine Krajnik war nicht zu übersehen.
Sabriski beugte sich über seine Schulter. »Tote sehen so aus, wenn sie zwei Jahre lang in feuchter Lehmerde liegen«, erklärte sie ihm. »Nimm dir die Handschuhe und hilf mir, das Mädchen rauszuheben.«
Sie hielten sich nicht lange auf und drehten die Tote auf den Bauch. Sabriski schob ihr das Kleid über die Hüften.
»Ach, du Scheiße!«, entfuhr es Körner. »Ich glaube, die Autopsie kannst du dir sparen.«
Sabriski warf ihm über die schmale Lesebrille einen sarkastischen Blick zu. »Sag bloß, auch dieses Mädchen ist angeblich an Herzversagen gestorben?«
Körner nickte. »Sie soll vor zwei Jahren in der Kirche während der Messe tot umgefallen sein. Laut der Aussage unseres Dorfarztes Doktor Weber gibt es dafür Dutzende Zeugen … wie übrigens auch für den Tod des Jungen. Wenn es nach mir ginge, würde ich Dutzende Haftbefehle ausstellen lassen und den Fall am Revier zu Ende bringen.«
»Aber wir können im Moment nicht aus diesem Ort raus - und Basedov ist noch immer verschwunden«, erinnerte sie ihn.
Nachdenklich starrte er auf die zerfetzte Wunde in Carinas Rücken. Innerhalb des aufgedunsenen Fleisches glaubte er das Schimmern weißer Wirbelknochen zu erkennen. Diese toten Kinder gingen ihm langsam an die Nieren. »Ist sie an der gleichen Ursache wie Sabine gestorben?«
»Mal sehen.« Sabriski weitete die Wunde mit einer Stahlklammer und fuhr mit einer langen Pinzette hinein. Es dauerte nicht lange, da brachte sie einen Wirbelsplitter zum Vorschein, den sie in das Licht der Stablampe hielt.
»Gebrochen und verunstaltet … hier!« Sabriski drehte das Teil im Lampenlicht. »Die gleiche kreisrunde Saugstelle wie bei Sabine Krajnik, als habe sich eine Fräsmaschine in den Knochen gebohrt.«
Mit der Pinzette löste sie weitere Teile aus dem Leichnam und deponierte sie auf einem Tablett. »Knochensplitter im Körper.« Sie schnitt mit dem Skalpell in die Wunde. »Das Fleisch ist durchtränkt, allerdings nicht mit Blut oder Wasser, das würde anders aussehen … es könnte von dem gleichen braunen Saft stammen, den ich bereits aus Sabines Wunde separiert habe.«
»Dieselbe Todesursache«, schloss Körner.
»Nicht so voreilig«, widersprach ihm Sabriski. »Um das zu behaupten, müssen wir erst eine Menge Beweise im Labor erbringen. Was haben die drei Leichen gemeinsam?« Sie legte das Skalpell zur Seite und zählte die Punkte an den Fingern auf. »Wurde den Opfern eine Dosis Valium injiziert? Ist die Wunde mit einer Kochsalzlösung mit hohem Fluimucil-Gehalt versetzt worden? Sind die Saugstellen an den Lendenwirbeln tatsächlich identisch? Stammen die Fleischfetzen, Hautteile, Knorpel- und Blutspuren im Körper von einem fremden Gewebe? Und zuletzt…« Sie machte eine Pause. »Litten die beiden Geschwister ebenfalls an Knochenmarkkrebs? Womöglich besteht da ein Zusammenhang.«
»Schön und gut«, murrte Körner. »Aber ich kann nicht auf den Laborbefund warten. Für mich liegen die Fakten auf der Hand: In diesem Ort werden Kinder jeweils an ihrem vierzehnten Geburtstag abgeschlachtet, und die Morde anschließend vertuscht. Mehrere Leute müssen an diesem Komplott beteiligt sein: Der Dorfarzt, der Gendarm, der Totengräber, die Eltern der Kinder - nicht zu vergessen der Pater und der Ladenbesitzer Gehrer, in deren Räumlichkeiten die Morde geschahen.«
Sieben Personen! Das übertraf Sabriskis Drei-Täter-Theorie bei weitem. Dieser Gedanke kam ihm zu abwegig vor, doch im Moment konnte er keine andere, halbwegs einleuchtende Erklärung finden.
»Kann es sein, dass die Wunden nachträglich angebracht wurden?«
»Ausgeschlossen.« Sabriski deutete auf die Körperöffnung im Rücken. »Die Hautränder sind mit eingetrocknetem Blut bedeckt. Der Leichenbestatter hat sich nicht mal die Mühe gemacht, die Verletzung zu säubern, geschweige denn die Wunde zu kaschieren. Ich vermute, die Kinder wurden sofort nach ihrem Tod eingesargt.«
Körner hatte es geahnt. »Die dachten, sie hätten nichts zu befürchten.«
Für ihn kam nur eine einzige mögliche Folgerung in Frage: Sie steckten inmitten einer unfassbaren Verschwörung, und viele Fragen waren ungeklärt.
Da flog die Tür auf und Philipp stapfte herein, gefolgt von Berger. Beide machten einen niedergeschlagenen
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