Der Judas-Schrein
erst die zweite Obduktion in Körners Karriere. Der ersten hatte er vor über zehn Jahren in der Pathologie der Sensengasse beigewohnt, als ein Team Gerichtsmediziner eine drei Wochen alte Frauenleiche untersuchte. Damals war der gesamte Raum klinisch steril gewesen, in gleißendes Licht gebadet, und er selbst hatte aus rund zehn Metern Entfernung das Offnen des Körpers beobachtet.
Diesmal war alles anders. Wie gebannt starrte er auf die menschlichen Überreste, deren ursprüngliche Form er nicht mehr erkennen konnte. Der Brustkorb von Mathias’ Leiche war tief eingesunken, das Fleisch auf dem Gesicht noch zur Gänze erhalten, doch wie ein Brei zerflossen. Es schien, als habe sich der Körper der Form des Sarges angepasst. Für Körner war es unmöglich, festzustellen, ob ein Junge oder ein Erwachsener vor ihm lag. Nur die Größe der teils vermoderten Kleider ließ auf einen Jugendlichen schließen. Körner musste sich nicht einmal ein Tuch vor den Mund halten, da die Fäulniserscheinung nicht so schlimm war, wie er befürchtet hatte. Das Wasser hatte den Körper zwar wie einen Schwamm aufgeweicht, aber trotzdem in einem konservierten Zustand erhalten. Auch das dichte schwarze Haar des Jungen war vollständig, wirkte aber wie ein grotesker Anblick im Vergleich zum verformten Rest des Leibes.
Das Klimpern des chirurgischen Bestecks riss Körner aus der Erstarrung. Sabriski hatte indessen ihre Flaschen, Schneidwerkzeuge und chemischen Lösungen auf einem Tisch neben dem Podest angeordnet, danach mit sorgfältigen Schnitten die Kleider vom Leichnam gelöst.
Neben ihr stand ein Aufnahmegerät, die Spulen der Kassette drehten sich leise im Kreis. »Offnen von Brustbein und Thorax«, kommentierte sie mit einer monotonen Stimme ohne aufzusehen.
Sie setzte das Skalpell unter dem Hals an und schnitt tief mitten durch den Brustkorb. Plötzlich wurde Körner schlecht. Er spürte, wie der Kaffee, den er vor zwei Stunden getrunken hatte, in seinem verkrampften Magen rebellierte. Rasch wandte er sich um und atmete tief durch. Er hörte Metallklammern schaben, Fleisch reißen und Knochen brechen. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Was war bloß los mit ihm? Schließlich war das nicht die erste Leiche, die er in seinem Leben zu Gesicht bekam. Doch diesmal war es anders. Verena lebte im Nachbarort und würde nächste Woche vierzehn werden. Der Gedanke, dass er in ihrer Nähe den Friedhof aufgewühlt und tote Kinder an die Oberfläche gezerrt hatte, ließ ihn schwindeln. Wieder kamen ihm seine Albträume in den Sinn. Während er zur Kuppel starrte und sich auf das Trommeln des Regens konzentrierte, beruhigte sich sein Atem. Er hörte Sabriskis nüchterne Stimme im Hintergrund.
»Blut- und Harnproben werden später zu einer chemischen Untersuchung eingeschickt. Frage: Gibt es Spuren von Valium im Körper? Falls ja, in welcher Konzentration?«
Körner hörte das Schnappen eines Deckels.
»Der Mageninhalt ist separiert und muss ebenfalls zur Untersuchung.«
Die Zeit verging quälend langsam. Körner hörte immer wieder das leise Schneiden des Skalpells, nur ab und zu blickte er hin.
Plötzlich wurde Sabriskis Stimme lauter. »Woran, hast du gesagt, ist der Junge gestorben?«
»Herzversagen.«
Sabriski winkte ihn zu sich. Sie hatte den Leichnam auf die Seite gedreht und deutete mit der Stabtaschenlampe auf eine geöffnete Stelle im Rücken. »Eine Wunde ähnlich wie bei Sabine Krajnik«, erklärte sie. »Die Haut und das darunter liegende Fleisch auf der Höhe des dritten Lendenwirbels wurden aufgerissen, wahrscheinlich aus dem Körperinneren heraus. Der Wirbel ist deformiert.«
Körner dachte für einen Moment an die Wunde in Sabine Krajniks Rücken und die rasche Zellteilung des fremdartigen Gewebes. »Was noch?«, fragte er.
»Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Ich brauchte ein Mikroskop und detaillierte Laborbefunde, jedenfalls sieht das hier nicht nach Herzversagen aus.«
»Eins zu Null für uns.« Körner blickte zum anderen Marmorpodest. »Offnen wir den zweiten Sarg?«
»Ich bin hier noch lange nicht fertig«, widersprach Sabriski.
»Das kannst du später machen. Ich möchte wissen, was sich in dieser Kiste verbirgt.«
Körner holte eine Brechstange aus Apflers Arsenal. Mit dem Eisen trennte er den Deckel von der Kiste. Die Scharniere verbogen sich, bis das voll Wasser gesogene Holz mit einem schmatzenden Geräusch nachgab. Der Sarg roch nach Schlamm. Als Körner den Deckel beiseite schob, schlug ihm ein
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