Der Judas-Schrein
Eisenkonstruktion wie ein bizarres Gebilde aus einer anderen Welt. Allem Anschein nach war es ein ähnlicher Mechanismus, wie ihn Pater Dorns Messdiener in seinem Tagebuch beschrieben hatte. Körner hockte sich vor die Sitzbank der Vorrichtung, ein schwarzes Lederkissen mit brüchiger Naht, das ihn an die Geräte in Fitnesscentern erinnerte. Er lugte darunter. Die Bank war mit einem Blechteil, Schrauben und Muttern an das Eisengestänge montiert worden. Körner schätzte das Alter der angebrachten Schweißnähte auf mindestens fünf Jahre. Auch die Rollen, das Gewinde und die Kugellager ließen ein ähnliches Alter vermuten. Die Seile waren zwar brüchig, aber nicht abgewetzt und entsprechend selten beansprucht worden. Womöglich hatten bereits Carina und Mathias Krajnik kurz vor ihrem Tod vor zwei beziehungsweise vier Jahren Bekanntschaft mit diesem Gerät gemacht. Körner studierte den Weg der Seilzüge von der Handkurbel bis zu den Lederriemen. Der Apparat könnte einen Menschen in eine nach vorne gekrümmte Sitzposition zwingen, sodass ein Rundrücken entstand, der laut Sabriskis Autopsiebericht eine Punktierung der Wirbelsäule erleichterte. Sie würde herausfinden, ob dieser Eingriff bei den exhumierten Kindern vorgenommen worden war. Körner dachte an die Krajnikgeschwister. Hatten Mathias und Carina auf dieser Bank gesessen? Hatten ihre Hände in diesen Lederriemen gesteckt?
Da kam ihm plötzlich ein nebensächliches Detail in den Sinn. Die Totenscheine! Mathias starb angeblich in den Räumlichkeiten von Gehrers Laden und Carina während der Messe auf der Kirchenbank. Diese Eisenkonstruktion hätte unmöglich durch die Tür in das Geschäft gepasst, geschweige denn zwischen die Kirchenbänke. Dann fiel Körner auch etwas anderes auf: Das Gestell war viel zu groß, um es durch die Tür aus der Gaslight Bar zu transportieren. Das Kripoteam hätte es unmöglich aus der Diskothek schaffen können, ohne es vorher zu zerlegen. Die Frage war: Wie war das Ding in die Diskothek gekommen?
Körner fuhr mit der Spitze des Kugelschreibers über die Schweißnähte des Eisengestänges. Zweifellos waren die Lötstellen einige Jahre alt, was nur bedeuten konnte, dass die Konstruktion ebenso lange in diesen Räumlichkeiten stand. Warum war ihm das vorher nicht aufgefallen? Hitze wallte in ihm auf. Der Diskothekenbesitzer Chuck Rainer musste also von dieser Konstruktion wissen! Ebenso alle Besucher der Diskothek - praktisch der gesamte Ort, denn so etwas sprach sich herum.
In welche verdammte Sache war er da nur hineingeraten? Körner schwindelte. War es das gewesen, wonach Basedov gesucht hatte, oder war dem Kripofotografen etwas anderes aufgefallen? Und falls ja, was?
Da kam ihm eine Idee. Sein eigenes Handy lag mit leerem Akku in seinem Zimmer. Philipps Mobiltelefon funktionierte auch nicht mehr. Doch in dieser Diskothek musste es einen Telefonanschluss geben. Er stand auf und sah sich um. Auf dem Tresen neben der Registrierkasse stand tatsächlich ein altmodisches, schwarzes Telefon mit Wählscheibe. Rasch ging er darauf zu, hob den Hörer ab und wählte aus dem Gedächtnis Basedovs Handynummer. Gestern Abend hatte sich die Mobilbox aktiviert vielleicht war das jetzt anders. Während er in der Muschel das Ticken des Verbindungsaufbaus hörte, schielte er zum schmierigen Spiegel hinter dem Schanktisch - sein eigenes Antlitz starrte zurück, blass, unrasiert, abgemagert und mit Schatten unter den Augen. Aus dem Augenwinkel sah er das Eisengestell. Mach schon!
Beim ersten Klingelton fuhr Körner herum. Irgendwo aus dem Raum hörte er eine Melodie. Er nahm den Hörer vom Ohr und lauschte. Der Ton drang dumpf wie durch Watte gefiltert zum ihm. Das Lied stammte aus einem Zeichentrickfilm. Eine Assoziation blitzte in seinem Hirn auf: Unter dem Meer! Unter dem Meer! Die Musik von Arielle, der kleinen Meerjungfrau! Da wusste er, dass er Basedovs Handy klingeln hörte.
Mit einem Mal verstummte die Melodie. Gleichzeitig drang die Stimme von Basedovs Mailbox aus dem Hörer: Sie sind verbunden mit dem Anschluss der Nummer drei-zwo-vier… Ein Klicken im Hörer ließ ihn zusammenfahren. Er hielt weiterhin die Muschel ans Ohr, doch die Leitung war tot!
Körner knallte den Hörer auf den Apparat. Woher war der Klang gekommen? Er stürzte um den Tresen herum und betrat den Bereich hinter der Schänk. Der Holzboden war dunkel und speckig, die Bohlen knarrten unter seinen Schritten. Er ging in die Hocke und betrachtete die mit
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