Der Judas-Schrein
Plätschern.
»Das klingt nicht danach, als käme das Wasser durch die Decke oder die Wände«, vermutete Grieg.
Paulsen und Dittrich holten ihn ein. An jener Stelle, wo die Gleise für die Grubenhunte in einer Senke verliefen, staute sich das Wasser. Die Männer wateten durch den schlammig braunen Pfuhl, ruderten mit den Armen und hielten die Lampen in Kopfhöhe, damit die Flammen nicht erloschen.
»Es ist scheißkalt«, japste Dittrich.
»Drei Grad«, antwortete Grieg knapp. »In einer Stunde oder früher werden die Stollen komplett überflutet sein. Wir müssen die Quelle finden.«
Die Stelle, an der sie aus der Senke kletterten, war so rutschig und von schmierigen Holzschwellen unterbrochen, dass Dittrich stolperte und der Länge nach im Wasser aufschlug.
»Meine Brille.« Dittrichs Hände fuhren wild über den morastigen Boden. Die Flut schwemmte die Zwischenräume der Holzschwellen aus, sodass die Balken frei auf dem Boden lagen. Faustgroße Erdstücke wurden fortgerissen, immer mehr bröckelte von den Seitenwänden ab.
Paulsen stellte die Lampe zur Seite, um Dittrich die Hand zu reichen. Die Finger seines Freundes waren eiskalt.
»Ich sehe nichts. Ich muss …«
»Vergiss die Brille. Komm weiter!« Paulsen zerrte ihn aus der Senke, gemeinsam stolperten sie in den Stollen hinein. »Pass auf die Lampe auf!«, brüllte Grieg.
Im gleichen Moment wurde die Leuchte von einer Wasserwelle fortgerissen. Sie tauchte in die Lache ein, wurde in die Senke gespült und über die Kante getragen. Sie schepperte über die Holzschwellen, bis sie in der Dunkelheit verschwand.
Grieg sagte nichts weiter. Er bedeutete ihnen bloß weiterzumarschieren. Im spärlichen Licht einer einzigen Lampe rannten sie tiefer in den Tunnel. Grieg leuchtete die Wände und die Decke aus. Schließlich kamen sie zum letzten Abschnitt. An jener Stelle endeten die Gleise. Hier hatte Gnoll das Gewächs im Boden entdeckt und Dittrich mit der Spitzhacke hineingeschlagen. An dieser Stelle hatte alles begonnen.
»Vorsicht!« Grieg deutete in das knöcheltiefe Wasser. »Irgendwo muss die Erdspalte sein, in die Dittrich die Lampe geworfen hat. Passt auf, dass ihr nicht hineintretet und euch das Bein brecht!«
Paulsen befürchtete schon, Dittrich würde wieder damit anfangen, er habe etwas in der Kluft gesehen, das sich bewegte, doch Dittrich schwieg. Bleichgesichtig stand er im Wasser, ohne den starren Blick von den Strudeln und Wellen zu nehmen.
An jener Stelle, wo Paulsen die Erdspalte vermutete, schoss das Wasser wie ein Geysir aus dem Boden, schlug Blasen und verteilte sich in kräftigen Schüben. Welche Gewalt war nötig, um das Wasser so emporzudrücken?
»Die Kräfte aus der Tiefe rächen sich«, murmelte Grieg. »Der Teufelsberg hat seine Pforten geöffnet. Er will uns ertränken.«
Das Erdreich der Seitenwände gab nach. Immer mehr wurde es ausgespült, wodurch Schicht für Schicht ins Wasser stürzte.
Dittrich stand wie angewurzelt. Er zitterte am ganzen Leib. »Ich sehe nichts.«
»Bewege dich, Junge«, riet ihm Grieg. »Tritt auf der Stelle! Sonst frisst dich die Kälte!«
Dittrich begann sich die Arme um den Leib zu schlagen und stampfte mit den Füßen.
»Hol zwei Spaten!«, forderte ihn Grieg auf.
Langsam setzte sich Dittrich in Bewegung.
Wie ein Gespenst taumelte er davon und verschwand in der Dunkelheit.
Grieg nahm eine erloschene Benzingaslampe vom Deckenhaken und hing stattdessen seine Handlampe auf.
Paulsen kroch die Kälte an den Beinen empor. Auch er begann Wasser zu treten. »Was machen wir jetzt?«
»Zunächst einmal: Nicht die Nerven verlieren! Unsere Chancen stehen nicht so schlecht.« Grieg blickte in die Dunkelheit des Tunnels, in der Dittrich verschwunden war. »Der Haupt- und der Schrägstollen ergeben die Form eines Ypsilons. Sie sind ungefähr sechshundert Meter lang. Mit etwas Glück findet das Wasser einen Weg hinaus.« Griegs Worte klangen nicht gerade überzeugend. »Oder das Wasser schafft sich einen Weg nach draußen …«
»Und falls nicht?«
Grieg sah ihn an. »Junge, dann gibt es auch für uns keinen Weg hier raus.«
Paulsen nickte zur Wasserfontäne hin, die aus dem Boden sprang. »Und wenn wir die Erdspalte zuschütten?«
»Keine Chance! Es sei denn …« Grieg kniff das Auge zu und dachte angestrengt nach. Schließlich murmelte er mehr zu sich selbst als zu Paulsen: »Irgendwo im Berg ist die Felswand in einen Hohlraum eingebrochen. Die wasserführenden Adern haben sich verlagert, das
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