Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
Vom Netzwerk:
Brustkorb versteift hatte. Hier berührte ihn eine angenehme, wirkungslose Kälte. Da wurde ihm ein schrecklicher Gedanke bewusst: Seine Glock lag noch immer unter dem Kellerabgang der Bar. Er hatte sie weggelegt, um Basedov über die Stufen nach oben zu tragen. Er musste sofort hier raus, die Waffe holen.
    Um ihn herum drang von unten dunkelgrünes Licht herauf, welches das Wasser in schimmernden Schlieren leuchten ließ, als trieben Algen auf dem Grund. Körner entfernte sich von der Lichtquelle, bewegte sich aber durch die immer fauliger werdende Brühe. Wellen schwappten ihm seitlich in den Hosenbund. Die Strömung wirbelte das brackige Wasser auf. Ein Gewächs mit schlaffen Blättern streifte seine Füße. Körner taumelte einen Schritt zurück und fiel ins Wasser.
    Mit einem Mal verfinsterte sich alles. Das grün schillernde Wasser wich einer abgrundtiefen Dunkelheit. Einzig hinter dem bis zur Decke reichenden Fenster mit dem Holzkreuz leuchtete eine grüne Unterwasserwelt, durch die Körner kilometerweit sehen konnte. Als stehe das Haus am Meeresgrund, schlängelten sich riesige Algen vom Boden am Fenster vorbei. Luftblasen stiegen auf und drängten immer weiter empor, bis sie aus Körners Blickfeld verschwanden. Der gesamte Ort war unter Wasser getaucht, bloß in diesem Gebäude schien sich eine Luftblase gehalten zu haben.
    Körner watete näher zur Scheibe. Windschiefe Giebeldächer schälten sich in weiter Ferne aus den grünen Schlieren. Er sah Fenster, Rauchfänge und Dachvorsprünge in der Unterwasserwelt auftauchen und wieder verschwinden. Mit einem Mal pressten Wellen gegen die Fensterscheibe, verzerrten die Sicht. Der schlammige Boden wurde aufgewirbelt. Aus der Schwärze trieb ein gewaltiger Schatten auf das Fenster zu. Ein Wesen mit hellen Augen. Es besaß Hörner, Zähne und ein riesiges Maul…
    Körner schrie auf. Er saß schweißgebadet im Bett. Sein Atem rasselte. Ein dumpfer Knall drang aus Bergers Zimmer. Hatte sein Schrei sie geweckt?
    Körner starrte zum Spiegel über dem Waschbecken. Die Kerze war bis auf einen Stummel niedergebrannt. Neben ihm murmelte Sabriski im Schlaf. Er rollte sich neben sie unter die Decke und schlief wieder ein.

Rückblende III
     
    Grein am Gebirge, 1937
     
    Paulsen, Dittrich und Grieg waren seit mittlerweile vier Stunden im Hauptstollen des Segen-Gottes-Schachts verschüttet. Nachdem sie die Schwachstellen der Türstockkonstruktion nahe des Einbruchs mit Balken gestützt und mit Brettern verstrebt hatten, begannen sie die Erde wegzugraben, stellten die Arbeit jedoch bald wieder ein, da ständig neues Geröll von oben nachrutschte.
    Grieg wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Es hat keinen Sinn. Besser wir schonen unsere Kräfte und sparen Sauerstoff.«
    Paulsen trank einen Schluck Wasser und warf die leere Flasche auf den Schutthaufen. »Es müsste schon Mittag sein.«
    Sie setzten sich auf die Wolldecken und kramten im Schein der Benzingaslampe Brot, Speck und das Geselchte aus den Kisten. Grieg verteilte die Brotscheiben, Paulsen öffnete eine neue Wasserflasche, trank daraus und reichte sie Dittrich. Die Kumpel wurden immer schweigsamer, bis sie schließlich kein Wort mehr sagten. Während Paulsen an einer Scheibe Speck kaute, nahm er das Foto, welches er immer bei sich trug, aus der Brusttasche seines Kittels. Mit schmutzigen Fingern faltete er es auseinander und hielt es in den Schein der Lampe, die neben ihm auf dem Boden stand. Das schwache Flimmern genügte, um die Aufnahme von Maria und den Kindern zu erkennen. Karl war sieben Jahre alt, grinste an der Seite seiner Mutter fröhlich in die Kamera, während die kleine Grete weinend in Marias Armen lag. Ein ähnliches Bild, nur ohne Tränen, hing im Wohnzimmer über der Kommode mit dem Radioapparat.
    In diesem Moment wartete seine Familie bestimmt auf seine Rückkehr. Gewiss hatte der Betriebsleiter Maria schon über das Grubenunglück benachrichtigt. Wie hatte sie reagiert? Sie war im vierten Monat schwanger, aber sie hatten es noch niemandem erzählt. Der Gedanke an ein drittes Kind lag ihm schwer im Magen. Wie sollte er die wachsende Familie ernähren? Die Frage beschäftige ihn bereits seit Wochen, dennoch verdrängte er sie hartnäckig. Aber länger konnte er die Tatsache nicht mehr ignorieren, zumal die Situation im Moment schrecklicher war denn je. Schlimm genug, dass Maria nur noch wenige Monate in der Greiner Metzgerei arbeiten konnte, und er als Vorarbeiter nicht genug Geld verdiente -

Weitere Kostenlose Bücher