Der Judas-Schrein
jetzt kam auch noch die Lohneinbuße durch das Grubenunglück dazu. Außerdem musste er noch seine Schwester unterstützen, die in der Schuhfabrik einen kümmerlichen Lohn erhielt. Zum Glück war sie mit Dittrich liiert, dessen Eltern einen Bauernhof in Heidenreich bewirtschafteten. Nahezu jedes Wochenende, wenn Dittrich Paulsens Schwester abholte, brachte er einen Korb mit Käse, Wurst und Eiern mit. Eigendich durften sie sich nicht beklagen, denn vielen Familien im Ort ging es schlechter als ihnen. Aber wenn Dittrich und er nicht bald wieder nach oben kamen, war es um seine Familie schlimm bestellt.
Die Situation kam ihm verdammt vertraut vor. Plötzlich musste er an seinen Vater denken. Er hatte ihm stets verboten, später selbst in die Grube zu fahren, da der Berg zu gefährlich sei. Stattdessen sollte der Bub zur Schule gehen und einen höheren Beruf erlernen, damit eines Tages etwas Besseres aus ihm werden würde als ein verdreckter, fluchender Grubenkumpel. Möglicherweise ein Zeitungssetzer oder Buchdrucker - aber auf keinen Fall ein Steinkohlenarbeiter. Täglich hörte der Junge, welche Gefahren in der Tiefe auf die Arbeiter lauerten und welche Tragödien sich im Berg abspielten. Er kannte Begriffe wie Erdbeben, Wassereinbruch, Staublunge und Methangas, bis ihn schließlich die Furcht packte, einer dieser Unfälle könnte seinem Vater zustoßen. Und dann passierte das Unglück. Sein Vater verschwand in jenem Berg, der so unberechenbar war.
Mit einem Mal war Paulsen gezwungen, selbst arbeiten zu gehen, um Geld für sich, seine Mutter und seine Schwester heimzubringen. Vorbei war der Traum von einer Setzerlehre. Als Zehnjähriger schleppte er Milchkannen, mit fünfzehn begann er die ersten Schichten im Berg zu fahren, während seine Mutter in der Greiner Metzgerei schaffte. Jahre später, als er selbst schon ein altgedienter Kumpel im Gschwendtner Steinkohlenbergwerk war, begann seine Schwester mit ihrer Schusterlehre bei Meyer & Sohn, der Schuhfabrik im Ort, in der hauptsächlich das Schuhwerk der Grubenarbeiter hergestellt wurde. Die gesamte Familie musste rund um die Uhr schuften, damit sie sich die Wohnung leisten konnten. Wenn sich der alte Grieg nicht um die Familie gekümmert hätte, wären sie auf der Straße gelandet. Damals arbeitete jeder auf eigenes Risiko, es gab keine Gewerkschaft in Grein, weder eine Rente noch eine Unfallentschädigung. Heute war das anders, doch zu jener Zeit konnte ein Unfall eine Familie in den Ruin treiben. Sie waren knapp davor gestanden, weil der alte Bastard in den Berg gefahren und nicht mehr heimgekommen war. Jahrelang hatte Paulsen seinen Vater dafür gehasst, dass er eine Frau mit zwei Kindern auf sich gestellt zurückließ.
Wie merkwürdig das Schicksal doch war. Damals hatten Paulsen und seine Schwester auf die Rückkehr des Vaters gehofft, und jetzt, da er selbst erwachsen war, warteten Maria, Karl und Grete auf ihn. Maria würde seine Lage verstehen, doch die beiden Kinder waren noch zu klein, um sie einzusehen. Würden sie ihn dafür hassen? Er konnte es ihnen nicht verdenken, hatte er doch selbst bis zu diesem Tag gebraucht, um die Tragödie seines Vaters zu begreifen.
Paulsen drehte das Foto in den Fingern. »Wie ist mein Vater gestorben?«
Grieg hörte auf zu kauen. »Kein passender Moment, um darüber zu reden. Außerdem habe ich dir das oft genug erzählt.«
»Ich will die Wahrheit wissen. Weshalb wollte er nicht aus dem Berg? Warum musstest du ihn zurücklassen?«
Grieg starrte ihn mit ernster Miene an. Schließlich murmelte er leise: »Ich bin seit meinem fünfzehnten Lebensjahr in der Grube, habe so manchen Unfall überstanden und genug Freunde im Berg verloren, um ein alter, verbitterter Mann zu werden.«
Paulsen rümpfte die Nase. »Du bist noch nicht alt…«
»Hör auf, mir Honig ums Maul zu schmieren«, unterbrach ihn Grieg. »Sei lieber still und hör zu, wenn du wissen willst, was damals geschehen ist.«
Grieg streckte die Beine von sich und lümmelte sich mit dem Ellenbogen auf den Boden. Paulsen und Dittrich rückten näher an den Alten heran. Nach einer Weile begann er zu erzählen.
»Nach dem Tod deines Vaters wurde das Unfallentgelt in der Gschwendtner Steinkohlenbergbau AG eingeführt. Vielleicht war es Zufall, vielleicht aber Vorherbestimmung. Jedenfalls habe ich bei einer der Dynamitsprengungen im Berg dieses Auge verloren. Das Nitro ging fünf Sekunden zu früh hoch.« Er strich sich mit dem Finger über die Augenbraue, unter
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