Der Judas-Schrein
zuvor geraten hatte? Er wusste, was das bedeutete.
Körner atmete flach, stieß die Holztür mit dem Fuß vollends auf und trat in den Raum. Die Vorhänge waren zugezogen, bloß durch den Schlitz fiel das Dämmerlicht in den Raum, doch er sah genug. Die Kripobeamtin saß im Stuhl mit dem Gesicht zum Eingang. Die Pistole hing in ihrer schlaffen Hand, in ihrem Schoß lag ein aufgerissenes Kopfkissen. Weiße Bettfedern, Blut, Haare, Knochenteile und Gehirnmasse klebten zu einem Brei vermengt auf dem Boden, dem Vorhang und an der Wand.
Körner fühlte sich so ruhig wie noch nie. Seit ihm die offene Tür aus der Hand geglitten war, hatte er instinktiv geahnt, was er in dem Zimmer vorfinden würde. Wie in Trance schritt er auf die Leiche zu. Die Pistole in Bergers Hand war eine Glock 17, mit schwarzen Griffschalen und Fingerrillen. Die Dienstwaffe der Kripo! Seine Dienstwaffe! Die Kugel war Berger in Stirnhöhe durch den Kopf gedrungen, das gefaltete Kissen hatte als Schalldämpfer gedient.
Körner kniete nieder, um Bergers Handgelenk zu fühlen. Die Haut war kalt, das Blut eingetrocknet - der Tod war bereits vor Stunden eingetreten. Körner erinnerte sich an den dumpfen Schlag aus dem Nebenzimmer, der ihn in der Nacht aus seinem Albtraum gerissen hatte. Er hatte den Schuss gehört! Die Zeit stimmte überein, die Kriminalpsychologin war bestimmt seit mehr als drei Stunden tot.
Unwillkürlich kamen ihm Bergers Worte in den Sinn, die sie beim Anblick des erhängten Goisserjungen gemurmelt hatte. Sie würde sich nie das Leben nehmen. Natürlich war das kein Selbstmord - genauso wenig, wie sich Martin Goisser das Leben selbst genommen hatte.
Die verdammten Dorfbewohner hatten Körners Waffe aus dem Keller der Gaslight Bar geholt, dabei aber bestimmt nicht seine Fingerabdrücke vom Griff gewischt. Doch das war gleichgültig. Die Ballistiker des Landesgendarmeriekommandos würden sowieso innerhalb einer Stunde feststellen, dass die Kugel aus dem Lauf seiner Glock stammte.
Während er auf die Leiche starrte, zuckte ihm eine weitere, völlig bedeutungslose Erinnerung durch den Kopf. Jenes Gespräch, das er mit Berger geführt hatte, als sie Dienstagmorgen in den Ort gekommen waren.
Diesmal fahren Sie nicht ohne mich heim, hatte sie ihn gewarnt.
In Ordnung, war seine Antwort gewesen.
Er hatte ihr versprochen, sie nach Wien mitzunehmen und nicht wieder allein in Grein zurückzulassen - und nun war sie tot, in den Kopf geschossen, mit einer Kugel aus seiner Dienstpistole! Die Medien würden sich den Tathergang rasch zusammengereimt haben. Alles passte wunderbar zusammen: Vier Tage vor der gerichtlichen Anhörung tötete ein suspendierter Kripobeamter die einzige Belastungszeugin im Verfahren wegen Totschlags an einem Geiselnehmer. Je länger er über alles nachdachte, desto mehr wurde ihm klar, wie tief er in der Tinte saß. Zweifel quälten ihn. Wäre der Mord an Berger auch dann passiert, wenn er als suspendierter Ermittler den Fall abgegeben hätte? Schrittweise setzte der Schock ein. Zuerst begannen seine Hände zu zittern, danach schnürte es ihm den Brustkorb zusammen. Körner stürzte in den Gang, er brauchte dringend frische Luft.
Philipp stand neben Sabriski im Türrahmen. »Wir sind fertig. Wo ist Berger?«
Die Gerichtsmedizinerin tastete nach seiner nassen Stirn. »Um Himmels willen. Was ist passiert?«
»Berger ist tot.«
Sabriski presste sich die Hand auf den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken.
Philipp drängte sich ins Zimmer. »Diese Mistkerle!« Im nächsten Moment kam er wieder heraus. »Die sind verzweifelt! Wir müssen verdammt knapp an der Wahrheit dran sein.«
»Das ist alles, woran du denkst? Wenn wir nicht abhauen, werden sie versuchen, auch uns zu töten.« Körner packte Sabriski an der Hand und lief mit ihr die Treppe hinunter. Ohne ein Wort zu sagen, ließ sie sich von ihm führen. Philipp polterte ihnen hinterher, geradewegs in den Gemeindesaal. In Windeseile kramten sie die gesamten Unterlagen des Falls zusammen.
»Wir sollten nichts überstürzen«, mahnte Philipp.
»Wir müssen von hier weg - in Heidenhof ist es sicherer.« Körner rannte mit mehreren Mappen im Arm durch die Schankstube ins Freie. Feiner Nieselregen lag in der Luft. Der Himmel war bleigrau. Eine milde Herbststimmung ruhte über dem Ort. Unter den Nebelschwaden schimmerten die nassen Pflastersteine.
Körner deutete über den Dorfplatz zur Gaslight Bar. »Mein Wagen steht vor dem Hintereingang.«
Sabriski lief los,
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