Der Judas-Schrein
Wasser schießt durch den Berg und sucht sich neue Wege. Die Quelle ist vielleicht einige hundert Meter über uns. Jetzt läuft das Wasser nach unten, und da es unter uns keinen Ausweg findet, wird es nach oben gedrückt.« Grieg deutete auf die immer stärker sprudelnde Fontäne.
Hatte Paulsen den Alten richtig verstanden? »Das Wasser läuft nach oben?«
»Das siehst du doch!« Grieg wurde barsch. »Wenn ein Höhlensystem im Berg zusammenbricht, tritt Sickerwasser aus, es beginnt zu zirkulieren und jagt in Druckröhren durch den Berg.«
Paulsen nickte, obwohl er nicht alles verstand. Immerhin war jetzt keine Zeit für einen Schnellkurs in Geologie. Wichtiger war, zu überleben.
Grieg deutete zur Seitenwand. »Es könnte funktionieren. Das Wasser spült das Material fort und die Seitenwände rutschen so lange nach und brechen Stück für Stück ab, bis das Gewicht von oben zu groß wird und die komplette Türstockkonstruktion einstürzt. Und wir helfen nach …«
Paulsen begann Griegs Plan zu begreifen. »Du willst das Stollenende zum Einsturz bringen?«
Grieg nickte. »Wir können die Spalte nicht zugraben, aber Tonnen von Erde können den Wasserlauf stoppen. Wir sperren den Zufluss ab.«
»Du bist ein alter Irrer!«, rief Paulsen anerkennend.
Grieg grinste.
Dittrich lief keuchend heran, in jeder Hand einen Spaten.
»Beginnt zu graben, hierund hier!«, befahl Grieg und deutete links und rechts zur Seitenwand.
Paulsen riss Dittrich einen Spaten aus der Hand und stieß das Blatt ins weiche Erdreich. Er hob eine Schaufel voller Erde aus der Sohle der Seitenwand.
»Hier soll ich graben?« Dittrich klang erschrocken. »Aber dann bricht die Seitenwand mitsamt der Decke ein.«
»Eben!«
Einige Sekunden lang stand Dittrich unentschlossen vor der Wand, plötzlich hellte sich sein Blick auf. Er hatte verstanden.
»Falls es klappt, können wir nur hoffen, dass das Wasser keinen anderen Weg in den Stollen findet«, keuchte Paulsen, während er wie besessen schippte.
Dittrich wartete nicht länger, den Spaten in die Erde zu stoßen. Sie gruben die Seitenwand ab, während das Wasser immer höher stieg.
»Ich spüre meine Beine nicht mehr«, ächzte Dittrich.
»Weiter!« Grieg hob den Fuß aus dem Wasser und trat gegen den Pfosten, der den Türstockbau stützte. »Wenn es so weit ist, müssen wir rechtzeitig in den Hauptstollen verschwinden. Danach können wir nur noch beten …«
Grieg verstummte. Auch Paulsen und Dittrich hielten in der Bewegung inne.
Sie hatten gar nicht bemerkt, dass das Wasser nicht länger in den Hauptstollen ablief. Mittlerweile hatte die Flut den gesamten Haupt- und Schrägstollen unter Wasser gesetzt und schwappte in einer Woge zurück. Sie standen längst bis zu den Knien im Wasser, einzelne Wellen erreichten ihre Oberschenkel. Auf der schmutzig grauen Wasseroberfläche trieben ihnen Holzbretter und anderes Material entgegen. Das Lampenlicht spiegelte sich in einer Getränkekanne, die auf den Wellen tanzte.
»Schneller!«, rief Grieg.
Paulsen trieb den Spaten in Hüfthöhe in die Seitenwand und schürfte mächtige Erdbrocken heraus.
Dittrichs Werkzeug klirrte. »Verdammte Steinkohle! Ich komme nicht weiter!«
»Ausgerechnet jetzt hält der Stollen wie eine Festung.« Zornig warf sich Grieg gegen den Holzsteher, der keinen Zentimeter nachgab.
Da knirschte das Gebälk der Deckenkonstruktion. Doch nicht am Stollenende, wo sie schaufelten, sondern einige Meter von ihnen entfernt.
Paulsen schirmte die Augen mit der Hand vor dem Lampenlicht ab. »Was war das?« Der Spaten fiel ihm aus der Hand. Erst jetzt sah er, dass in der Mitte des Trakts genau das passierte, was sie mit ihrer Plackerei erreichen wollten. Die Seitenwand brach ein. Die Holzbalken knirschten, mit einem Mal ging vor ihnen die komplette Decke nieder. Das Wasser spritzte ihnen bis in die Augen.
Die Wasserwelle schwappte gegen Paulsens Brust. Von einer Sekunde auf die andere legte sich ihm ein Druck auf die Ohren. Er hörte noch wie jenseits der eingestürzten Wand weitere Türstöcke barsten und Geröll auf einer Länge von mindestens zehn Metern einbrach … dann war es totenstill. Nur das Wasser schlug mit einem leisen, klatschenden Geräusch gegen die Wände, bis es sich beruhigte.
Dittrich drehte unsicher den Kopf. »Was ist passiert?«
»Diesmal sind wir am Ende des verdammten Stollens eingesperrt«, flüsterte Paulsen.
4. Teil
Der Rückzug
Donnerstag, 11. September
23. Kapitel
Kurz nach sieben Uhr
Weitere Kostenlose Bücher