Der Judas-Schrein
morgens wurden Körner und Sabriski durch Philipps Klopfen an der Zimmertür aufgeweckt. Während sich Sabriski todmüde aus dem Bett wälzte, um anschließend ins Badezimmer am Flurende zu schlurfen, setzte sich Philipp zu Körner aufs Bett. Der Spurensicherer fasste die Nachrichten zusammen, die er, weil er nicht länger schlafen konnte, seit dem Morgengrauen aus seinem batteriebetriebenen Kofferradio erfahren hatte.
Die Lage war genauso trostlos wie am Tag zuvor. Weite Teile des Landes standen unter Wasser, vor allem die Bezirke Krems, Horn, Zwetd, Tulln, Liezen, Leoben und Rohrbach. Auch diesmal war etwas über Grein im Radio zu hören gewesen: In der Nacht waren die Schleusen des Trieracher Staudamms für vier Stunden geöffnet worden, weil sich das Wasser immer weiter zurückstaute und bereits das Chemiewerk in Spoisdorf unterspült hatte. Der Greiner Bürgermeister hatte Hilfe für seinen Ort angefordert. Am Freitag sollten über eine Luftbrücke Tausende Sandsäcke und zweihundert Feldbetten und Decken für Notunterkünfte eingeflogen werden. Seit den Morgenstunden waren Armeehubschrauber mit Netzcontainern unterwegs, in denen sich Pumpen, Generatoren und Anlagen zum Trockenlegen befanden.
Körner konnte das ständige Gefasel über Regen, Flut, Deichkronen und Pegelstände nicht mehr hören. Er stand am Fenster und blickte auf den mächtigen Feuerwehrwagen, der in der Seitengasse neben dem Krämerladen parkte, als warte er auf seinen Einsatz.
»Verstehst du denn nicht?« Philipp erhob sich. »Die Luftbrücke ist unsere Chance, endlich hier rauszukommen.«
»Und wer löst den Fall?«
Philipp ignorierte die Frage. »In den Nachrichten haben sie etwas über die Reporterin von der Neunkirchener Rundschau gebracht. Unsere einzige Zeugin im Krajnikmord ist tot!«
Körner fuhr herum, plötzlich war er hellwach. »Das sagst du erst jetzt!«
»Unmittelbar vor der Einlieferung in das Nervenkrankenhaus hat ihr jemand Acutard injiziert, ein Neuroleptikum. Es hat sie in einen zweitägigen Dämmerschlaf versetzt. Heute Morgen hat sie sich die Pulsadern aufgeschnitten.«
»Weber, dieser Scheißkerl!« Körners Faust knallte gegen den Fensterrahmen. »Als er mit der Reporterin allein im Krankenwagen saß, hat er ihr bestimmt kein Haldol, sondern eine Ampulle Valium verabreicht, um sie sprechunfähig zu machen.« Er deutete zu dem zerknüllten Papier auf dem Nachttisch. »Sie konnte nur noch diese Zeichnung machen. Anschließend hat er ihr das Acutard injiziert.«
Die Tür öffnete sich, Sabriski schlich an ihnen vorüber. Sie hatte entsetzliche Kopfschmerzen, ihr Nacken war verspannt. »Das Wasser ist eiskalt, und das Licht im Bad geht nicht.«
»Wir haben ernstere Probleme.« Während ihr Philipp die Neuigkeiten erzählte, packte Körner bereits seine Sachen zusammen. Er dachte an die drei Kinder mit den zerfetzten Wirbelsäulen, den erhängten Jungen, die Augenzeugin mit den zerschnittenen Pulsadern, seinen ermordeten Kripo-Kollegen und den irren Pfarrer, den die Dorfbewohner vor 150 Jahren gelyncht hatten. »In diesem Ort braut sich seit Jahren eine riesengroße Scheiße zusammen. Wir müssen von hier verschwinden!« Er kramte nach seinen Autoschlüsseln.
Sabriski knotete sich ein Handtuch um die nassen Haare. »Wo willst du hin? Die Brücke ist weg, wir können nicht mehr telefonieren.«
»Wir fahren einige Kilometer flussaufwärts in den Nachbarort, nach Heidenhof. Dort wohnt jemand, den ich kenne. Sie ist zwar merkwürdig, aber nicht so verrückt wie die Leute in Grein.«
Sabriski starrte ihn verblüfft an. »Ich bin in fünf Minuten startklar.« Sie und Philipp verschwanden in ihre Zimmer.
Körner griff nach dem Schulterholster. Es war leer, die Glock lag noch immer im Keller der Gaslight Bar, wo er sie aus der Hand gelegt hatte, als er auf Basedovs Leiche gestoßen war. Er durfte die Waffe nicht im Ort lassen. Nachdem er die Zeichnung der Reporterin, das Tagebuch des Messdieners und die übrigen Unterlagen des Falls in eine Mappe verschnürt hatte, stürzte er in den Flur hinaus. Er wollte an der Klinke des Nebenzimmers rütteln, Berger wecken und zur Eile drängen, doch die angelehnte
Tür schwang einen Spalt breit auf. Im Zimmer herrschte finstere Nacht. Der Geschmack von Eisen und Kordit lag noch in der Luft. Körners Hektik wich einer kontrollierten inneren Anspannung. Er spähte durch den Türspalt in die Dunkelheit. Warum hatte Berger ihr Zimmer nicht abgesperrt, obwohl er es ihr in der Nacht
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