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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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der die dunkle Höhle saß. »Die großen Herren boten mir einen Büroposten an. Pah! Wozu? Schließlich sieht man mit einem Auge in der Dunkelheit genauso wenig wie mit zweien. Ich wollte weiterhin neben meinen Kumpeln schürfen, das ist mein Leben. Nach dem Tod deines Vaters habe ich mir geschworen, dass ich die Männer in der Grube niemals im Stich lassen werde und bei ihnen bleibe, so lange ich kann. Früher habt ihr über mich gelacht, als ich vom Teufelsberg erzählte, aber im Gegensatz zu euch Grünschnäbeln kenne ich das Gebirge.«
    Er starrte zur Decke. »Ich gehöre dem Berg - er hat mich für sich. Von der Unfallrente kann ich mir ein einigermaßen bequemes Leben leisten, doch Paulsen, du kennst die Wahrheit, ich brauche nur die Hälfte für mich.«
    Paulsen nickte. Er wusste, seit Vaters Tod unterstützte Grieg seine Mutter und kümmerte sich um die Witwe Paulsen, wie sie seit dem Unfall im Ort genannt wurde. Ohne den alten, halb blinden Grieg hätten sie diese Zeit nie überstanden.
    »Ich gebe zu, vielleicht ist das Geld an deine Mutter eine Art Sühne dafür, dass ich die Grube ohne deinen Vater verlassen habe, doch glaube mir, alles Geld der Welt kann mir diese Schuld nicht nehmen. Hin und wieder wache ich in der Nacht schreiend auf. Ich höre deinen Vater und sehe ihn genau vor mir, wie er in der Grube erstickt und mit den Fingern in der Erde gräbt.«
    »Wie ist es passiert?«, brachte Paulsen hervor.
    »Damals arbeiteten wir in zweihundertvierzig Metern Tiefe auf der zweiten Tiefbausohle, im stillgelegten Trempel-Schacht«, erzählte Grieg. »Binnen Sekunden war das Beben da. Unmittelbar hinter uns stürzte die Holzkonstruktion ein, in einem Tempo, das du dir nicht vorstellen kannst, wenn du es nicht mit eigenen Augen gesehen hast. Wir ließen alles liegen und stehen und rannten um unser Leben. Jeder wollte als Erster im Förderkorb aus dem Schacht fahren. Dein Vater stürzte, sein Bein knickte einfach weg. Niemand blieb stehen, wir rannten wie die Teufel. Er hat nicht einmal nach uns gerufen, sondern sich allein weitergeschleppt. Als sich das Beben beruhigte und der Staub einigermaßen setzte, wandte ich mich nach ihm um. Ich brüllte seinen Namen und ging einige Schritte in den Stollen. Er antwortete, seine Stimme klang nicht einmal weit entfernt. Bleib bei der Gruppe, rief er. Ich wollte zu ihm, doch der Vorarbeiter packte mich am Kragen. Sicher, ich hätte mich losreißen können, doch meine Beine waren wie gelähmt. Da kam das Beben wieder, stärker als zuvor. Unmittelbar vor uns ging die Decke nieder und ich habe deinen Vater nie wieder gesehen …« Grieg verstummte.
    Paulsen, der die gesamte Zeit schweigend aufgepasst hatte, sagte nichts. Er hörte die Geschichte zum ersten Mal in dieser Version. Mit einem Mal überkam ihn ein speiübles Gefühl. Ein gebrochener Knöchel, ein ausgerenktes Knie, und schon war man verschüttet! Er hatte all die Jahre gedacht, sein Vater habe ihn im Stich gelassen. Wie sich plötzlich alles um hundertachtzig Grad umkehrte und er selbst in einer solchen Situation saß!
    Paulsen lehnte sich an die Wand, die Hand auf den Boden gestützt. Er griff in nasse Erde! Wie vom Blitz getroffen sprang er auf, riss die Lampe hoch und leuchtete den Boden ab.
    »Verdammt!«, fluchte Grieg als auch er es sah. Der Alte und Dittrich sprangen gleichzeitig auf und wichen einen Schritt zurück.
    Eine Lache breitete sich auf dem Boden aus. Rasch strömte neues Wasser hinzu und schwappte über die Wolldecke, auf der sie gesessen hatten. Im nächsten Moment standen sie mit den Schuhen im Nassen.
    Grieg leuchtete mit der Lampe zum Ende des Hauptstollens, wo sie die Wurzel entdeckt hatten. »So eine Scheiße!«
    Über den holperigen Boden schoss ihnen aus der Dunkelheit das Wasser entgegen. Im Schein der Karbidlampen funkelte der Strom wie eine Springflut, die über die Holzschwellen der Gleise raste.
    »Zur Wasserquelle!« Grieg setzte sich in Bewegung. Zuerst watete er zögerlich durch das knöcheltiefe Wasser, dann lief er über die Gleise.
    Paulsen hielt die zweite Lampe in der Hand. Er und Dittrich folgten Grieg so schnell es ging. Sie liefen zum Ende des Hauptstollens. Das zwischen ihren Beinen schäumende Wasser spritzte bis zu ihren Knien hoch. Es war eiskalt. Binnen Minuten waren Paulsens Schuhe und Socken so durchtränkt, dass seine Zehen gefühllos wurden. Im Berg musste eine Quelle aufgebrochen sein. Je tiefer sie in den Tunnel vordrangen, desto lauter hörten sie das

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