Der Judas-Schrein
Sakristei schleppte. Er presste sich die Hand über sein Steißbein, um die Blutung zu stoppen.
Körner sah auf. Obwohl die Eintragung knapp hundertvierzig Jahre alt war, klang sie, als stünde sie mit den jüngsten Ereignissen in unmittelbarem Zusammenhang. Schon damals trugen die Bewohner von Grein Verletzungen an der Wirbelsäule. Wie konnte sich etwas, das vor so langer Zeit begonnen hatte, bis heute fortsetzen? Doch nicht nur die Unfälle und Verwundungen zogen sich wie ein roter Faden durch die Dorfgeschichte, auch der Beichtstuhl und jener darin verborgene Mechanismus mit den Seilzügen und Lederfesseln, auf dessen Nachbildung er in der Diskothek gestoßen war. Sobald Sabriski erwachte, musste er ihr die Textstellen vorlesen. Vielleicht sah sie jene Zusammenhänge, die er im Moment nicht erkennen konnte.
Das Licht der Taschenlampe wurde immer schwächer. Körner schob die Kerze näher zum Buch.
14. März: Lange Zeit bin ich nicht zum Schreiben gekommen. Mittlerweile sind zwei Wochen vergangen, in denen ich mir täglich schwor, einen Blick in den Beichtstuhl zu werfen, jedoch immer eine Ausrede fand, es nicht zu tun. Aber heute wollte ich nicht länger warten, und so habe ich mir den Weg für diese Nacht fest vorgenommen. Aber der Reihe nach. Am heutigen Montag war ich zum ersten Mal mit den Kühen von Adalbert Schmals Viehhof auf der Weide - doch nicht lange. Der Boden war noch gefroren und mir war bitterkalt. Anschließend beeilte ich mich mit dem Ausmisten des Stalls. Gegen sechs Uhr abends beendete ich meine Arbeit und betete anschließend in der Marienkapelle, wo ich mir Kraft für mein Vorhaben holte. Ich hoffte, die Mutter Gottes würde mir beistehen. Schließlich verließ ich die Kapelle und betrat die Kirche. Von der Tochter des Bürgermeisters wusste ich, dass sich der Pater im Ort aufhielt und mich nicht stören würde. Bewaffnet mit einer Öllampe und einem Stock ging ich zum Beichtstuhl. Ich trat vor die geschlossene Tür, hielt den Atem an und lauschte. Schließlich legte ich das Ohr an das Holz. Doch nichts! Hinter der Tür herrschte schwärzeste Stille. Aber ich war mir sicher, dass sich das Gezücht hinter dieser Tür befinden musste, da ich es diesmal weder gehört noch zwischen den Kirchenbänken gesehen hatte. Ich machte einen Schritt zurück, drückte mit dem Stock die Klinke nieder und zog die Tür mit dem Fuß auf. Darauf gefasst, angesprungen zu werden, hielt ich zur Abwehr die Lampe hoch … doch der Beichtstuhl war leer. Überrascht leuchtete ich mit der Öllampe hinein. Mir stockte der Atem. Ein rostiges Eisengitter bedeckte den Boden. Nur noch die halbe Holzbank hing schräg befestigt an der Wand. Von der Decke baumelten Seile und
Flaschenzüge und vor der Bank war eine Leiste mit blutverschmierten Lederfesseln montiert. Der Beichtstuhl wirkte wie eine altertümliche Folterkammer aus den Zeiten der Inquisition. Ich trat mit der Lampe näher, um alles zu betrachten.
Ein bestialischer, schwefelhaltiger Gestank schlug mir entgegen. Da erst sah ich, dass ein riesiges Loch unter dem Fallgitter klaffte. Ich hob das Eisen und lehnte es an die Wand. Die Bohlen darunter waren zersplittert, ihre Bruchstellen wie von einem dunklen Schwamm überwuchert. Mitten im Beichtstuhl führte ein tiefer, stinkender, von Wurzeln durchwucherter Schacht in die Erde, der gerade so breit war, dass ein schlanker Mensch durchpasste. Über das Loch gebeugt, ließ ich die Lampe an der Stange hinunter, bis ich den erdigen Untergrund erkennen konnte. Anschließend kletterte ich abwärts, die Lampe vorsichtig in der Armbeuge. Ich hangelte mich über die Wurzeln hinab, bis ich nach einigen Metern Boden unter den Füßen fand. Ein unbehagliches Gefühl überkam mich, als ich vorsichtig in die Hocke ging und in die Dunkelheit spähte. Die Grube war nicht alles: Unter dem Kirchenschiff führte ein niedriger, etwa ein Meter breiter Tunnel ins Erdreich. Wurzeln hingen von der Decke, es roch nach schwarzer Erde und moderigem Holz. Doch weit konnte ich nicht sehen, da mich das Licht der Öllampe blendete. Als ich gebückt in den Tunnel vordrang, schirmte ich das Lampenlicht mit der Hand ab. Der Gang führte abwärts. Schon bald merkte ich, dass es von der Decke tropfte. Regenwasser? Befand ich mich bereits unterhalb des Kirchhofs? Wer hatte diesen Tunnel gegraben? War er ein zusätzlicher verborgener Teil des Türkenschachts? Da gabelte sich der Weg. Durch ein schmales Loch konnte ich einen Blick in die Gruft
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