Der Judas-Schrein
dieses Gefühl? Die Bewohner blieben für immer im Ort. Kaum jemand ging für länger fort. Woran erinnerte ihn dieser Satz? Er massierte sich die Schläfen. Immer und immer wieder las er diese letzten Worte, um das Gefühl des de-já-vu nicht zu verlieren, das sich langsam formte - da schoss ihm eine Erinnerung durch den Kopf. Ihm fielen die Urlaube ein, die er als Bub mit seinen Eltern unternommen hatte: die Steinküste, das Meer. Mit einem Mal roch er den Duft der Pinienwälder.
Sie waren nie länger als fünf Tage in Kroatien geblieben. Eigentlich waren es nur vier Tage gewesen, da die Autofahrt jeweils über zwölf Stunden gedauert hatte. Unbegreiflich, weshalb sie nur so kurz von zu Hause weggeblieben waren. Damals hatte er gedacht, es liege am Geld, doch sein Vater hatte als Bauleiter nicht schlecht verdient. Vielmehr wirkten ihre Kurzurlaube, als ziehe sie etwas nach Grein zurück. War es der Ort selbst?
Je länger er darüber nachdachte, desto verrückter erschien ihm der Gedanke. Er las den Satz ein weiteres Mal, um sich davon zu überzeugen, dass er nicht einem Hirngespinst nachjagte. Wie Süchtige bleiben sie hier! Unwillkürlich stellte sich eine weitere Erinnerung ein, die er gern verdrängt hätte - diesmal an Maria. Als er mit seiner damals noch jungen Frau nach Wien gezogen war, wurde sie immer schwächer, je länger sie dem Ort fern war. Es begann mit harmlosen Kopf- und Nackenschmerzen, die in Migräne, Brechreiz, Fieber und Schwindelanfälle mündeten. Maria ging in Wien zu Grunde, ständig drängte sie, nach Heidenhof zurückzukehren.
Wie Süchtige bleiben sie hier!
Das Gespräch mit Hermann Goisser kam ihm in den Sinn. Der Elektriker hatte ihm erzählt, seine Mutter sei für eine Woche in Harbach zur Kur. Weshalb nur sieben Tage? Normalerweise dauerte ein Rehaburlaub drei Wochen. Was zum Teufel hielt die
Leute in Grein und Heidenhof? Weshalb verließen sie den Ort nicht? Was zog sie zurück?
Als ein Schlüssel im Schloss klimperte, schlug Körner das Buch zu, den Kopf zur Eingangstür gewandt. Er knipste die Lampe aus und ließ sie in der Hosentasche verschwinden.
25. Kapitel
Maria trat in den Vorraum. Aus reiner Gewohnheit ließ sie den Lichtschalter klicken, doch im Gang blieb es dunkel. Fluchend stellte sie die Einkaufstaschen zu Boden. Sie schlüpfte aus ihrer Regenjacke und streifte die hohen Stiefel ab.
Körner sah ihr dunkelrotes Haar, das sie offen über einem Rollkragenpullover trug. Merkwürdig - jenes Mädchen, das er kurz vor seiner bevorstehenden Hochzeit auf dem Neunkirchener Meldeamt wiedergetroffen und in das er sich verliebt hatte, erinnerte ihn irgendwie an Sabriski: ihr Temperament, die hektischen Bewegungen. Die beiden Frauen waren sich im Grunde genommen ziemlich ähnlich, beide starrköpfig und auf eine erfrischende Art selbständig.
Maria rümpfte die Nase, anschließend wandte sie den Kopf herum. Zuerst starrte sie auf die brennenden Kerzen in der Küche, dann entdeckte sie Körner. Ihre Augen weiteten sich. »Was machst du hier? Bist du verrückt, mich so zu erschrecken!«
»Hallo.« Körner blieb sitzen. »Du sagtest doch, ich dürfe auf einen Kaffee vorbeikommen.«
»Ungünstiger Zeitpunkt.« Sie hatte sich rasch gefasst, stellte die Einkaufstaschen auf die Arbeitsfläche der Küche und begann die Dosen, Flaschen und Tiefkühlpackungen auf dem Fenstersims zu verstauen. Solange der Stromausfall andauerte, würde das brüchige Fenster, durch dessen Ritzen der Wind fegte, als Eiskasten fungieren. »Das war das Letzte, das ich noch bekommen konnte. Heute Vormittag hatten bereits alle Geschäfte geschlossen.«
Körner knurrte der Magen. Es war kurz vor zwölf, eben wurde ihm klar, dass er noch nicht gefrühstückt hatte.
»Wo ist Verena?«
»Bei einer Freundin.«
»Dort ziehen sie sich bestimmt Zigaretten rein.«
»Alex, lass das!«
Er nickte stumm, während ihm Gehrers Worte durch den Kopf gingen, er solle an seine Tochter denken und aus dem Ort verschwinden. Doch so lange Maria noch die Ruhe in Person war, schwebte Verena bestimmt nicht in Gefahr. Andernfalls wäre Maria der Hysterie nahe gewesen. Er wusste wie sie reagierte, wenn sie in Panik geriet.
Aufmerksam beobachtete er sie. Ihre Hände zitterten, als sie die Milchpackungen übereinander stapelte. War es wegen der Kälte oder wegen seiner Anwesenheit?
Sie setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. »Ich habe gehört, ihr seid im Braunen Fünfender einquartiert.«
»Ein netter Gasthof,
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