Der Judas-Schrein
seine Leiche schon verschwinden lassen. Scheiße! Wenn er doch wenigstens seine verdammte Waffe mitgenommen hätte! Mutlos starrte er auf die Unterlagen. Das Einzige, was ihm blieb, war, die restlichen Seiten dieses verrückten Tagebuchs zu lesen. Er fürchtete, die Aufzeichnungen würden mehr Fragen aufwerfen als beantworten. Trotzdem schlug er das Buch auf, um durch die einzelnen Seiten zu blättern, die sich bereits aus dem Einband lösten. Die Handschrift war immer dieselbe, ein fein säuberliches Gekritzel in kurrenten Buchstaben, Wort um Wort eng aneinander gereiht.
Körners Blick fiel auf eine Eintragung vom elften Februar, die mit den Worten Es ist entsetzlich begann. Der Lichtstrahl riss die Worte förmlich aus dem Schriftbild heraus.
Körner beugte sich über das Buch und begann an dieser Stelle zu lesen.
11. Februar: Es ist entsetzlich. Seit dem unheiligen Geschlechtsakt ist Pater Dorn vollends verrückt geworden. Seine verzweifelte Suche nach Gott hat im Wahnsinn geendet. Immer häufiger spricht er von der Schwarzen Ziege mit den Tausend Jungen. Ob er die entsetzliche
Kreatur meint, die ihn Ende Jänner beinahe in Stücke gerissen hat?
16. Februar: Heute behauptete Pater Dorn zum ersten Mal, dass der Gott der Christen nicht existiere. Er sei ein simples Produkt des menschlichen Geistes und so unreal wie alles andere, was sich der Mensch erschaffen hat, um das Unerklärliche besser verstehen zu können. Gott sei nichts weiter, als ein fassbares und verständliches, lächerliches Trugbild, an das sich der Mensch klammere. Pater Dorn so sprechen zu hören, bricht mir das Herz. Er redete auf mich ein, der Glaube an die Schwarze Ziege sei der einzig wahrhafte, denn Shub-Niggurath sei unbegreiflich, unverständlich, absolut unfassbar und die Verkörperung des kosmischen Ganzen. Das Wissen um sie sei so groß, all-universell, er selbst habe sogar für einen Augenblick die wahre Gottheit erschaut und für den Bruchteil eines Augenblicks ihre unsagbare Tortur erfahren. Er faselte von grässlichen Träumen, die ihn seither plagten, von Visionen über verrückte Landschaften und kranke Städte, die jenseits unseres Vorstellungshorizonts existieren.
24. Februar: Ich dachte, das Gezücht sei tot, in der Gruft verendet und sein Kadaver läge unter der Maschine begraben. Doch ich habe mich geirrt. Seit den Ereignissen vor vierundzwanzig Tagen wuchs es in der Obhut des Paters heran. Bestimmt hat er es während der letzten Wochen deshalb vor meinen Augen versteckt, weil er ahnt, dass ich seine Geburt als Frevel betrachte. Zweifellos ist das Gezücht bösen Ursprungs. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass es nicht von dieser Welt stammt, sondern von jenseits einer Barriere, die nie hätte geöffnet werden dürfen. Wie lange hat es dort danach getrachtet, einen Weg in unsere Realität zu finden?
Doch es ist geschehen, und heute sah ich das Gezücht erstmals seit seiner unheiligen Geburt. Pater Dorn versteckt es im Beichtstuhl. Ich konnte nur einen flüchtigen Blick erhaschen, der allerdings genügte, um zu sehen, dass es bereits jetzt, obwohl es noch so klein ist, schrecklicher aussieht als die monströse Wesenheit, aus deren zuckendem Leib es geschlüpft war. Unter der Decke, die Pater Dorn im Arm trug, stahl sich eine verwurzelte, hornbewehrte Extremität hervor. Eilig verschwand der Pater mit seiner Last im Beichtstuhl und verschloss die Tür. Unmittelbar darauf hörte ich, wie unzählige Arme gleichzeitig um sich schlugen, sodass die Wände erzitterten.
29. Februar: Manchmal gleitet das Wesen aus dem Beichtstuhl, schlängelt sich über den Boden oder kriecht eilig zwischen die Bankreihen der Kirche. Ich sehe immer nur Teile von dem Gezücht, und mir scheint, es wächst enorm schnell. Bei den grauenvollen Geräuschen rieselt mir ein Schauer über den Rücken. Doch noch mehr Angst bereiten mir Pater Dorns regelmäßige Besuche im Beichtstuhl. Diesen Montag verbrachte ich meinen freien Tag mit Arbeit in Adalbert Schmals Viehställen. Während des Ausmistens fiel mir ein, dass ich das Tagebuch in meiner Kammer vergessen hatte. Zu Mittag lief ich zurück, es zu holen, um einige Einträge zu machen. Als ich die Kirche betrat, flog die Tür zum Beichtstuhl auf und Pater Dorn taumelte daraus hervor. Sein Oberkörper war nackt, mit Blut beschmiert, sein Rücken mit einem Laken bandagiert. Mit rasendem Herzen versteckte ich mich hinter einer Säule, wo ich beobachtete, wie sich der Pater stöhnend zur
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