Der Judas-Schrein
daraus hervor und wucherten über den Boden. Körner stieg über das spröde Gebilde, welches sich durch das gesamte Gewölbe verzweigte.
Inmitten des größten Raumes befand sich eine merkwürdige Konstruktion. Sie glich keineswegs dem Eisengestell, das sich in der Gaslight Bar befand. Dieses Gerät war um ein Vielfaches größer und bestand aus Kurbeln, Zahnrädern, Ketten, Pedalen, brüchigen Seilen und Mühlsteinen, die als Gewichte dienten. Körner stolperte auf die Maschine zu. Der Anblick erinnerte ihn an eine Stelle aus dem Tagebuch: Durch ein schmales Loch konnte ich einen Blick in die Gruft und die Teile der Lautlosen Maschine werfen. War jene Maschine gemeint, die Körner gerade vor sich sah? War er durch denselben Tunnel gekrochen, den bereits der Messdiener mit seiner Öllampe auf der Suche nach dem Gezücht genommen hatte? Das würde bedeuten, dass sich das Gewölbe unmittelbar unter der Kirche befand.
Körner überlegte fiebrig. Nichts, was er bisher gesehen hatte, widersprach den Tagebucheintragungen. Je tiefer er in die Geschichte des Ortes vordrang, desto mehr ergaben die Zeilen des Messdieners einen Sinn. Angenommen, der Messdiener war nicht verrückt gewesen und alles, was Körner bisher in dem Buch gelesen hatte, entsprach der Wahrheit, dann musste er sich in jenem Gewölbe befinden, dessen Abgang die Lynchmeute der Dorfbewohner im Juni 1864 mit Hämmern, Nägeln und zerschlagenen Kirchenbänken verbarrikadiert und anschließend mit dem schweren Altarstein blockiert hatten. Falls all dies der Wahrheit entsprach, dann war der Ausgang seit 1864 versperrt. Vielleicht gab es im Tagebuch einen Hinweis dazu. Eilig kramte er das Buch aus der Manteltasche und richtete den Lichtstrahl auf die erste Eintragung, mit der alles begonnen hatte.
4. Jänner 1864: Der neue Altarstein, den wir vor zwei Monaten aus St. Gyden im Dekanat Kempen bekommen hatten, brachte uns bisher nur Unannehmlichkeiten. Bereits am Tag der Aufstellung senkte sich der Boden gewaltig, und zu allem Überfluss entstand gestern im Chorbogen ein Mauerriss, der sich seit Stunden weiter ausdehnt.
Der Rest der Seite war verwischt. Körner hockte sich im Schneidersitz an das Gestänge der Maschine, wo er sich im schwächer werdenden Lampenlicht dem Tagebuch widmete, dessen Aufzeichnungen am nächsten Tag fortgesetzt wurden.
5. Jänner: Heute Morgen reichte der Riss bis zum Boden und war so breit, dass ich zwei Finger hineinstecken konnte. Zu Mittag hörte ich, dass der Maurermeister von Haidenhof mit zwei Gesellen zur Kirche kommen werde. Als ich am Nachmittag Pater Dorn wie jeden Dienstag den Einkauf aus dem Ort brachte, waren die Männer bereits bei der Arbeit. Der Platz vor dem Altar sah schrecklich aus: überall Staub und Schutt. Holzlatten, Wassertröge, Kellen und Schaufeln lagen herum. Die Arbeiter hatten ein manngroßes Loch in die Wand gestemmt und rissen gerade den Holzboden auf. Die darunter liegenden Bohlen waren morsch, es stank erbärmlich nach brackigem Wasser. Kein Wunder, dass sich der Boden gesenkt hatte. Dem Zustand der Baustelle nach zu urteilen, würde das Chaos mindestens eine Woche andauern. Zu diesem Zeitpunkt hofften der Pater und ich noch, dass bis zur Sonntagsmesse das Gröbste erledigt sein würde. Doch es kam anders. Am Abend war plötzlich die Hölle los. Die Männer liefen wie aufgescheuchte Hühner durch die Kirche. Pater Dorn hetzte über die ausgebrochenen Mauerteile, um mit weißem Gesicht in das Loch zu starren. Bei den Ausbesserungsarbeiten unter der äußeren nördlichen Kirchenmauer waren die Arbeiter auf eine Gruft gestoßen. Ein Maurergeselle steckte bis zum Hals in der Spalte. Er rief nach einer Öllampe. Nachdem ich sie ihm gebracht hatte, rutschte er auf dem Hosenboden tiefer in das unterirdische Gewölbe, bis er verschwand. Danach sah ich nur noch das tanzende Lampenlicht unter der Bodenritze.
»Eine Gruft mit Gebeinen!«, brüllte er herauf.
Ich stand wie angewurzelt da und starrte auf den Riss im Boden. Pater Dorn drehte sich zu mir, den Zeigefinger über die Lippen gelegt. »Kein Wort darüber!«
Noch am selben Abend schickte Pater Dorn die Maurer zurück nach Haidenhof. Ich weiß nicht, was er vorhat, doch hoffe ich, es morgen zu erfahren.
6. Jänner: Vorläufig wurden die Restaurationsarbeiten eingestellt, da Pater Dorn Nachforschungen über den Zweck und das Ausmaß der Gruft anstellen möchte. Dabei sollte ich ihm helfen.
Nach dem Mittagessen begannen wir. Pater Dorn
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