Der Judas-Schrein
und ich trugen dicke Mäntel, festes Schuhwerk und waren mit Öllampen, Seilen und Spaten ausgerüstet. Ich folgte dem Pater in die Gruft. Mir war elend kalt, Atem stieg vor meinem Gesicht auf. Der Abstieg führte einige Meter über abschüssiges Geröll, doch dann stießen wir auf grob in den Stein gehauene Stufen. Schon bald erkannten wir, wo wir uns befanden: Eine geräumige Gruft schien sich wie ein Labyrinth unter dem gesamten Kirchberg auszudehnen. Die Kammern waren mit menschlichen Knochen gefüllt. Ohne die Details mit der Lampe auszuleuchten, folgte ich dem Pater. Er eilte von einem Raum zum nächsten, wobei er immer tiefer in den unterirdischen Steintunnel lief, bis dieser in einer Sackgasse endete. Enttäuscht stellte der Pater die Lampe zu Boden. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was er sich von diesem unterirdischen Bauwerk erhofft hatte.
»Ich dachte, wir hätten den legendären Türkenschacht entdeckt.« Der Pater schlug mit der Faust auf das Gestein. Ich machte ihn auf ein rostiges Eisengitter aufmerksam, welches über unseren Köpfen mit zwei Scharnieren in die Felsdecke eingelassen war.
»Max, mach mal die Räuberleiter«, befahl er mir, und schon stieg er hoch, um den Riegel im Schloss zu lösen.
Nachdem das Gitter heruntergefallen war, kletterten wir an den in den Wänden befestigten Eisenhaken nach oben. In dem engen Schacht gelangten wir schon bald auf ein schmales Plateau. Licht fiel durch die winzigen Gucklöcher in der Marmorkuppel. Da wir uns dicht aneinander pressten, gelang es uns sogar, nach draußen zu sehen. Mir stockte der Atem. Wir befanden uns mitten auf dem Grainer Dorfplatz und konnten nach allen Richtungen blicken. Ich sah das Gasthaus, die Scheunen und den Weg zum Fluss. In unmittelbarer Nähe plätscherte Wasser, und da erst bemerkte ich, wo wir uns befanden: im Dorfbrunnen! Die Skulpturen der Marmorengel waren innen hohl. Ein Eisenscharnier verriet uns, dass es einen Weg nach draußen geben musste.
Pater Dorn kauerte sich auf den Boden. »Wir haben tatsächlich den Türkenschacht entdeckt.« Lächelnd erzählte er mir, was es mit dem Bauwerk auf sich hatte. Früher führte der unterirdische Geheimgang von der Kirche direkt zum Dorfplatz. Er wurde gewöhnlich bei räuberischen und kriegerischen Überfällen als Fluchtweg benutzt. Der im Dorfbrunnen verborgene Ausgang sollte besonders der Rettung kostbarer Kirchenschätze dienen. Bei der ersten Türkenbelagerung von Wien im Jahre 1529 verbargen sich die Dorfbewohner in dem Tunnel. Später wurde der Geheimgang um einige Räume erweitert und diente angeblich als Leichenhalle für die Opfer der Schwarzen Pest. Irgendwann wurde der Tunneleingang in der Kirche zugemauert, wonach der Schacht nur noch als Legende weiterlebte.
In der Grainer Kirchengeschichte finden sich weder Hinweise noch Aufzeichnungen über den Türkenschacht, dennoch haben wir ihn vor wenigen Stunden betreten!
7. Jänner: Heute inspizierten Pater Dorn und ich erneut den Türkenschacht. Während ich die Gebeine der Toten auf das Geheiß des Paters in Säcke verschnürte, damit er sie später in einem Massengrab beisetzen kann, kümmerte sich der Pater um eine bestimmte in den Berg gehauene Nische, die wir den »Werkraum» nannten. Von dort förderte er Zahnräder, Gestänge, rostige Metallfedern und ein altes Schreibpult zu Tage. Kurzerhand zersplitterte er die Lade mit einem Brecheisen, das die Maurer auf der Baustelle liegen gelassen hatten. Ich eilte rasch mit der Öllampe herbei, wurde aber enttäuscht. Ich hatte mir schaurige Aufzeichnungen erhofft, Tagebücher, Briefe oder ein geheimnisvolles Testament, doch die Lade enthielt lediglich ein brüchiges Buch, welches knapp nach der Jahrhundertwende verfasst worden war. Der Autor, ein gewisser Josef Hutzinger, hatte nur wenig Text, jedoch umso mehr Federzeichnungen zu Papier gebracht. Diese abstrusen Kritzeleien mussten um 1801 ziemlich merkwürdig angemutet haben, da sie selbst heute noch absonderlich wirken. Vielleicht schien sich Pater Dorn gerade deshalb dafür zu interessieren, denn er gab das Buch nicht mehr aus der Hand.
11. Jänner: Heute war wieder einmal Montag, mein freier Tag, doch diesmal wollte ich nicht auf den Zufahrtswegen zu Adalbert Schmals Gehöft Schnee schaufeln, obwohl mir der Landwirt dafür immer Geld gibt. Ich hatte auch nicht vor, seine Ställe auszumisten. Vielmehr beschäftigte mich die Frage: Wer war Josef Hutzinger?
Ich besuchte Ebus von Walbecks Tochter, die
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