Der Judas-Schrein
anzeigte. Die beiden Pole des elektrischen Zünders direkt an die Batterie zu schließen hätte Körners augenblicklichen Tod bedeutet - stattdessen wollte er einen simplen Fernzünder konstruieren.
Er wischte sich die schlammverdreckten Hände am Mantelkragen ab, dann riss er mit ungeschickten Fingern die winzige rote Kontrolllampe mitsamt der Fassung aus dem Gerät. An die beiden Pole für die Lampe musste er nur noch die Drähte des Polex-Zünders hängen. Als Körner den Kontakt zum Plus- und Minuspol herstellte, hielt er den Atem an. Doch nichts geschah. Erst in dem Moment, wo er das Gerät mit dem zweiten Apparat anfunkte und es von Standby auf Empfang ging, würde der Kontakt geschlossen, der eigentlich die Kontrolllampe aktivierte. Doch statt der Lampe würde der elektrische Impuls den Zünder erreichen, der Strom die Glühbrücke erhitzen und … Bang! In einer Kettenreaktion würden viereinhalb Kilo Dynamit hochgehen.
Doch im Moment waren beide Funkgeräte im Standby-Modus. Während Körner die Kunststoffverkleidung zuklappte und das präparierte Gerät in den Schlamm drückte, bis lediglich die Antenne herausragte, bedachte er seinen Plan. Er war keineswegs sicher, ob es überhaupt funktionieren würde. Die beiden Sprechfunkgeräte hatten eine Reichweite von nur eineinhalb Kilometern. Wenn er sich zu weit entfernte, sich ein Draht löste, die Batterie versagte oder sich das veraltete Dynamit als Versager entpuppte, passierte gar nichts. Ein Gedanke bedrängte ihn, den er schon seit gestern Abend mit sich herumtrug: Warum hier bleiben? Er könnte das alles vergessen und sofort über die Deichkrone klettern, sich in die Flut stürzen und zum anderen Ufer schwimmen. Er hätte den Ort verlassen, alles hinter sich gebracht. Doch noch war er nicht bereit dafür … zunächst wollte er die fehlenden Zusammenhänge herausfinden. Einige Fragen waren noch offen: Woher kamen die Wesen? Was genau waren sie? Was taten sie? Wer beherrschte sie? Darüber hinaus wollte er noch den Beginn des Tagebuchs lesen. Ihm schien, als liege darin der Schlüssel zu der gesamten Geschichte verborgen. Außerdem gab es noch einen Hauptgrund, um hier zu bleiben: Er durfte seine Tochter unmöglich in der Gewalt der geisteskranken Dorfbewohner lassen.
Langsam entfernte er sich aus dem Schutz der herunterhängenden Weidenäste. Auf dem Bauch liegend, das zweite Funkgerät in der Manteltasche verstaut, schob er sich von einer Ackerfurche in die nächste, bis er wieder den Traktor mit dem verrosteten Anhänger erreichte. Verborgen hinter dem ausrangierten Ungetüm, richtete er sich zu voller Größe auf. Seine Hände waren halb erfroren. Die Kälte steckte ihm seit Stunden in den Knochen und ließ seine erstarrten Gelenke knirschen. In der Wölbung des Traktorsitzes hatte sich eine Regenlache gesammelt. Körner wischte sich die Handflächen an der Hose ab, um sich einen Schluck zu schöpfen.
»Dort oben!«
Das Regenwasser schmeckte frisch wie von einer Bergquelle. Körner schöpfte aus der Vertiefung, in der das Kupplungsgestänge verschwand, eine weitere Hand voll Regenwasser, wovon er gierig trank. Augenblicklich begann sein Magen zu knurren.
»Dort! Rasch!«
Erst jetzt blickte er auf. Einige Männer hatten sich aus der Menschentraube vor dem Deich gelöst und rannten über die Felder. Körner sah sich um. Hinter ihm befand sich nur der Acker, dahinter die Straße, die Bergwerksstollen, der Friedhof und der menschenleere Parkplatz.
»Lasst ihn nicht entkommen!«
Körners Herz begann zu rasen. Die Männer konnten nur ihn meinen! Augenblicklich begann er zum Bergwerksstollen zu rennen. Mit den Schuhen rutschte er in die verschlammten Ackerfurchen. Ohne sich umzusehen, stolperte er über die Straße, die Kieswege und ausgelegten Bretter, bis seine Lunge brannte und ihm der Schweiß in die Augen lief. Er stoppte erst wieder, als er den Audi hinter sich gelassen hatte und tief in die absolute Dunkelheit des Tunnels vorgedrungen war. Im Berg würden sie ihn unmöglich finden.
30. Kapitel
Nach einer kurzen Pause drang Körner im Licht der Taschenlampe weiter in den Tunnel vor. Wenige Hundert Meter später erstarb das Geräusch seiner Verfolger. Weshalb kamen sie nicht hinterher? Bewegte er sich etwa in einer Sackgasse vorwärts? Trotzdem ging er weiter.
Je tiefer er in das Bergwerk vordrang, desto wärmer wurde es. Der kalte Hauch vor seinem Gesicht verschwand. Dicke Wurzeln hingen aus den Seitenwänden. Das Gestrüpp wuchs so
Weitere Kostenlose Bücher