Der Judas-Schrein
vorbei. Mit jedem weiteren Meter scheuerte er sich die Hände noch mehr auf. Mit einem Mal drehte sich die Tunnelröhre vor ihm. Der Raum wurde weiter, verengte sich im nächsten Moment, die Wände verzogen sich, und mit ihnen schien sich sein eigener Körper zu verändern. Licht und Schatten wechselten einander permanent in einem schrecklich anzusehenden Spiel ab. Bald kam es ihm vor, als liege er auf dem Rücken und starre zur Decke. Da! Die schwarzen Wurzeln bewegten sich vor seinen Augen. Oder war es nur eine Täuschung, die das zuckende Lampenlicht hervorrief? Körner versuchte, genau hinzusehen, doch das Bild verschwamm vor seinen Augen. Lösten sich tatsächlich Teile aus dem Gewächs, die wie Schatten auf sein Gesicht zukrochen, seine Lippen und Wangen berührten? Blut sickerte ihm aus Nase und Mund, sammelte sich in seinem Rachen, doch er konnte nicht ausspucken. Er versuchte den Kopf zu heben, Blut aus dem Mund zu pressen, doch es schlug Blasen, lief ihm über Wangen, Kinn und in die Nase - er schluckte es unwillkürlich und begann krampfhaft zu husten. Gierig schnappte er nach Luft, krallte sich mit den Fingern in das Geäst und zog sich keuchend voran. Er musste weiter - wohin immer dieser Weg führte - oder sterben.
Ihm schien, als kämen die Blackouts immer häufiger, als würden die Abstände zwischen den Wachphasen kürzer. Sobald er wieder bei Sinnen war, zog er sich weiter, krallte sich mit den Händen in die Wände, schob sich mit den Knien vorwärts. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht. Als er einmal mehr die Finger in die wuchernden Ranken bohrte, versank seine Hand komplett in dem Gewächs. Es knackte. Seine Hand brach bis zum Gelenk ein. In dieser Stellung konnte er den anderen Arm mit der Lampe unmöglich herumdrehen, um zu sehen, was passiert war. Panisch bemühte er sich, die Hand herauszuziehen, doch sie steckte zu tief in der Wand. So tat er das genaue Gegenteil von dem, wozu ihm sein Instinkt riet. Er stemmte die Schulter an die gegenüberliegende Wand und drückte seinen Arm tiefer in das Gewächs. Als breche er durch eine Hülle, konnte er seine Finger plötzlich frei bewegen. Befand sich seine Hand jenseits des Wurzelwerks im Freien? Er spürte weder Nieselregen noch einen kühlen Luftzug. Wie einen Bohrer begann er den eingeklemmten Arm zu drehen. Langsam vergrößerte sich das Loch. Bald steckte er bis zur Schulter in der Wand und konnte die andere Hand hinzuziehen, um die Wurzeln zu entfernen. Ihm schien, als sträube sich das knorrige Gewächs nicht einmal gegen seine Bemühungen. Vor seinen Augen entstand eine Öffnung, durch die er beide Arme und den Kopf stecken konnte. Er stemmte sich mit den Füßen gegen die Wand und presste den Oberkörper in das Loch. Es war an den Rändern verkrustet und verwachsen. Mit den Armen schob er sich weiter, drückte die Ellenbogen gegen die Wurzeln, welche plötzlich knackend nachgaben. Eine nach faulen Eiern stinkende Flüssigkeit spritzte ihm ins Gesicht, in die Haare und auf den Mantel. Die geborstenen Wurzeln sonderten einen ekelhaften Saft ab, der sich wie ein Gelee in den Mantelstoff sog. Würgend hielt Körner den Atem an, während er in den dahinterliegenden Raum schlüpfte.
Als Körners Oberkörper das Übergewicht bekam, rutschten seine Beine nach, wodurch er einen Meter tief auf einen harten Steinboden fiel. Er reagierte zu spät und schlug mit dem Kopf hart auf. Die Taschenlampe polterte einige Armlängen von ihm entfernt über die Bodenrillen, bis sie gegen eine Wand traf.
Körner rappelte sich mit zitternden Knien hoch. Im ersten Moment konnte er unmöglich das Gleichgewicht halten, da sein Kopf so schwer wie eine Kanonenkugel war. Er wischte sich die schmierige Flüssigkeit aus dem Gesicht. Benommen sah er sich um. Wie es schien, befand er sich in einem Gewölbe. Die Luft war stickig, doch der Schwefelgestank hatte nachgelassen. Er griff nach der Lampe und leuchtete den Raum aus. Vor ihm offenbarte sich ein Steingewölbe mit Nischen, so groß wie ein Weinkeller, jedoch befanden sich keine Stellagen darin, sondern nackte Wände und Torbögen, die in weitere Bereiche führten. Das Wurzelgeflecht war verschwunden, bloß an einigen wenigen Stellen brach es durch die Gesteinsrisse und rankte sich wie verdorrter Efeu über die Wände. Die wenigen Ausläufer ließen erahnen, was sich im Erdreich hinter dem Gewölbe befand. Ebenso war der Boden an manchen Stellen aufgerissen. Versteinerte Gewächse, dick wie Abwasserrohre, quollen
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