Der Judas-Schrein
dicht, dass die Erdwände und die hölzerne Türstockkonstruktion kaum noch zu erkennen waren. Beim Anblick der Wurzeln, Ranken und Knollengewächse kehrten Körners entsetzlichen Kopfschmerzen zurück. Diesmal blutete er nicht aus Nase und Ohren, sondern spürte das warme Blut am Zahnfleisch, auf seinem Gaumen und im Rachen. Er schluckte so lange, bis ihm übel wurde. Sein leerer Magen rebellierte. Immer öfter spuckte er aus.
Als sich der Tunnel vor ihm teilte, ein Weg nach rechts abzweigte, der andere nach links abfiel, entschied er sich für den abschüssigen linken. Dieser Tunnel führte nicht weiter in das Gebirge, sondern Richtung Grein. Irgendwo würde er schon rauskommen. Der Tunnel wurde immer enger. Bald merkte Körner, dass keine Eimer, Spaten oder Lampen mehr herumstanden. Gleisanlagen für die Grubenhunte gab es schon lange nicht mehr. Auch fehlten die Markierungen an der Holzkonstruktion. Er leuchtete mit der Lampe den Tunnel aus. Sein Atem stockte. Es gab überhaupt keine Holzbalken mehr. Der Stollen schien selbsttragend wie ein natürliches Gebilde. Noch dazu hatte sich ein ekelhafter Schwefelgestank im Gang ausgebreitet, der an faule Eier erinnerte. Der Tunnel war knapp einen Meter siebzig hoch, schulterbreit und vollständig von dunklem Wurzelwerk bewachsen. Seit Minuten war Körner bereits in gebückter Haltung über die knorrigen Ranken gegangen, die sich auf dem Boden zu einem dichten Geflecht vereinten.
Es wurde wärmer, je tiefer er in den Schacht drang, der nun steiler bergab führte. Von Zeit zu Zeit wurde Körner schwindelig, sodass er sich an die Wand lehnte, um für eine Minute zu verschnaufen. Er führte die wiederkehrenden Schwächeanfälle auf den Wasser- und Nahrungsmangel zurück. Mittlerweile lastete ein ungewöhnlicher Druck auf seinem Kopf. Ein Geräusch dröhnte in seinen Ohren, wie das Rauschen seines eigenen Blutes. Hinter seinen Schläfen begannen sich die Blutgefäße zu erweitern. Körner glaubte, sein Schädel werde bersten. Er brauchte dringend frische Luft und Platz, um Arme und Füße Von sich zu strecken, da sich sein Körper immer öfter zusammenkrampfte.
Die Schwindelanfälle traten immer häufiger auf, vereint mit Erinnerungslücken. Der Schwefelgestank verursachte Brechreiz, sodass Körner gallige Magensäure hochwürgte. Bald verlor er die Orientierung und jegliches Zeitgefühl. Wie lange stolperte er schon durch diesen endlosen Tunnel? Als er wieder aus einer tiefen Gedächtnisstörung hochschreckte, fand er sich selbst auf dem Bauch kriechend wieder, auf die Ellenbogen gestützt, die Taschenlampe vor sich her rollend. Was zum Teufel war passiert? Der Tunnel war mittlerweile so schmal geworden, dass sich Körner gerade noch hindurchschieben konnte. Weshalb hielt er nicht an? Automatisch setzte er einen Arm vor den anderen, um sich weiterzuziehen. Er wusste weder, wo er sich befand, noch wie tief er bereits in den Stollen vorgedrungen war. Konnte er überhaupt noch umdrehen? Für eine Wendung war der Gang zu eng - Körner konnte höchstens den gesamten Weg rückwärts kriechen. Er musste unbedingt eine Pause einlegen, um in Ruhe über sein Vorhaben nachzudenken. Während eines hellen Moments wurde ihm bewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er feststecken und sterben würde. Mittlerweile war ihm klar geworden, dass er sich in keinem normalen Bergwerk befand. Die Wurzeln an der Wand erinnerten ihn an die Erzählung im Tagebuch des Messdieners, nur dass dieses Gewächs kräftiger war, seine Ranken weder Anfang noch Ende besaßen und ihn wie ein steifes, dickes Netz umgaben, kilometerlang ineinander verflochten. Wenn jene Beschreibung des Tagebuchs der Wahrheit entsprach, stimmte vielleicht alles andere auch, was Körner in dem Buch gelesen hatte. Womöglich führte ihn dieser Tunnel direkt zur Quelle des Geheimnisses.
Plötzlich neigte sich die Röhre ein weiteres Mal. Körner wollte sich abstützen, rutschte jedoch mit den Händen voran in die Tiefe. Der folgende Aufprall drückte ihm die Luft aus der Lunge. Als er wieder klar sah, stellte er fest, dass er in einer ebenen Röhre steckte. Er versuchte, flach zu atmen ohne sich zu bewegen. Für eine Umkehr war es endgültig zu spät. Über diese Neigung würde er sich niemals rückwärts hinaufschieben können. Einige Meter vor ihm erhellte die Taschenlampe den nächsten Teil des Stollens. Körner kroch darauf zu. Mit den Haaren streifte er an der Decke, mit den Schultern zwängte er sich an dem Gewächs
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