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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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hoch.
    »Glück auf!«, riefen die Kumpel aus der Hütte.
    Paulsen nickte und warf die Tür hinter sich zu. Er stapfte über die Gleisanlage und versank zwischen den Holzschwellen bis zum Knöchel im Morast. Noch war der Boden nicht gefroren, doch der erste Herbstfrost würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Aber einem Bergmann war das gleichgültig … untertag herrschte immer die gleiche Temperatur, egal ob es hagelte oder die Sonne schien.
    Paulsen blinzelte zu den Wagons. Sie waren erst zur Hälfte voll, und der verdammte Plan, der sie unter Druck setzte, sah vor, dass der nächste Zug schon zu Mittag an der Reihe war, in exakt fünf Stunden. Bis dahin hieß es schürfen, was das Zeug hielt - tagein, tagaus die gleiche Arbeit. Max, der Lokführer, trottete ihm entgegen, lüftete die Mütze und verschwand mit einer Zeitung in der Fahrerkabine. Dem ging es hervorragend. Zweimal pro Tag lud Max die abgebaute Steinkohle auf die Frachtkähne des Wiener Neustädter Kanals, von wo sie nach Wien transportiert wurde, oder nach Peutenstein, wo ein Vitriol- und Alaunwerk stand. Mit dem Rest der Kohle wurden die Glashütten und Kalköfen in Wiener Neustadt beliefert. Dort war die Arbeit auch nicht besser als hier. Paulsens Nachbar litt an einer Staublunge; er arbeitete seit zehn Jahren in einem entlegenen Ziegelwerk, weil er in Grein keine Arbeit finden konnte. Zwar waren die Schichten im Berg kein Honiglecken, aber jeder konnte sich glücklich schätzen, der im Gschwendtner Steinkohlenbergwerk einen Arbeitsplatz hatte. Alle anderen mussten nach Wien oder Wiener Neustadt pendeln, oder vom Notstand leben.
    Paulsen kam zur Kesselanlage, daneben stand die 35 Meter hohe Esse, die den Hauptschacht mit dem nötigen Luftzug versorgte. Die Kumpel von der Vorgängerschicht schufteten seit acht Stunden im Stollen und es war an der Zeit, dass sie aus der Grube kamen. Die Dampffördermaschine, die Alte Liest, röhrte und meckerte wie eine sture Ziege, die sich nur noch widerwillig bewegte. Paulsen und eine Hand voll Arbeiter hatten die Anlage im letzten Jahr umgerüstet. Die Alte Liesl funktionierte jetzt mit Bandseilen auf einem Trommeldurchmesser von drei Metern, sodass sie eine Leistung für zweietagige Förderkörbe erreichte. Doch was die Männer im Moment taten, glich blankem Wahnsinn. Schürfen um jeden Preis, hieß die Devise. Paulsen wusste, wohin das führte. Für wohlüberlegte Berechnungen und Pläne blieb keine Zeit, jeder Versuch, ein Gespräch mit dem ausführenden Angestellten im Werk zu führen, wurde abgeschmettert. Daran konnte selbst er als Vorarbeiter nichts ändern. Auch der Betriebsleiter erhielt seine Anweisungen von oben, wie es so schön hieß. Hohe Quoten und rasche Profite gingen vor, und das bedeutete: Raubbau!
    Paulsen hielt vor dem Segen-Gottes-Schacht. Über dem Holztor surrte eine Lampe, das Kabel lief am Türstock und an den Zaunlatten entlang und verschwand hinter einem Mast. Wie hässlich das Ding aussah! Aber anders ging es nicht: Der Hauptschacht wurde über eine zwölf Kilometer lange elektrische Freileitung mit Strom versorgt. Er erinnerte sich, wie sie 1924 verlegt worden war. Damals hatte sein erstes Jahr in der Grube begonnen; er war gerade mal fünfzehn Jahre alt gewesen. Sein Vater hatte diese Zeit nicht mehr erlebt, andernfalls hätte er seinen Sohn um keinen Preis in den Berg fahren lassen. Zu viele ihrer Familienmitglieder waren bei Bergwerkskatastrophen dem Tod knapp entronnen.
    Alle hatten sie pures Glück gehabt, immer wieder, deshalb hatte sein Vater ständig vor dem Berg gewarnt, bis es ihn schließlich selbst erwischte. »Glück auf.«
    Paulsen hob die Hand zum Gruß. Seine Kumpel Dittrich und der alte Grieg warteten bereits vor dem Eingang auf ihn. Meist fuhren sie zu dritt in den Berg.
    Dittrich trug eine Brille mit dünnem Rahmen. Wenn er sie verlegte oder mit Ruß beschmierte, war er so blind wie ein Maulwurf und machte seinem Beruf als Grubenarbeiter alle Ehre. Er war in Paulsens Alter, Ende zwanzig, ein langer, dürrer Kerl mit kurz geschorenem Haar und blassen, eingefallenen Wangen, aber meist so albern wie ein Kind. Manchmal ließ sich Paulsen von der überschwänglichen Art seines Freundes anstecken, vor allem, wenn sie sich in der Dorfkneipe trafen, was häufig vorkam. Dittrich war mit Paulsens jüngerer Schwester zusammen, weshalb ihn die Grubenkumpel oft aufzogen, doch Paulsen und seine Mutter konnten sich für das Mädchen keinen besseren Mann wünschen.
    Der

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