Der Judas-Schrein
alte Grieg hingegen war ein zäher, wortkarger Grubenarbeiter, der den Großteil seines Lebens untertag verbrachte. Wie Paulsens Vater, so hasste auch Grieg den Berg, dennoch kam er nicht von ihm los, als zögen ihn die Stollen magisch hinab. Und eines Tages würde der Berg auch Grieg zu sich holen und nicht mehr freigeben.
Der Alte strich sich die langen, grauen Strähnen hinters Ohr. Mit der faltigen Stirn, dem stoppeligen Kinn und den dürren Armen war er alles andere als ein ansehnlicher Kerl. Hinzu kam, dass er bei einer Dynamitsprengung im Berg durch einen Splitter ein Auge verloren hatte, aber nie eine Augenklappe trug. Vor dem Berg habe er nichts zu verstecken, sagte er, und so konnte jeder, der den Mut aufbrachte, in seine leere Augenhöhle starren. Grieg war wirklich ein hässlicher Kerl, doch Paulsen mochte ihn, auch wenn sein Kumpel manchmal so störrisch war wie die Alte Liesl und keinen Menschen an sich heran ließ.
»Packen wir es an«, murrte Grieg. Er hielt die Tür auf und sie traten ein. Der Eingang zum Schacht war eng und bestand lediglich aus einer in den Hügel ragenden Hütte, die einem Maschinenraum glich. Es roch nach Öl und Diesel.
»Glück auf!« Der Fördermaschinist hielt den Bergeaufzug an, die Zahnräder knirschten und das Rasseln des Motors erstarb. Früher waren sie mit einem Förderkorb in den Schacht gefahren. Vor drei Jahren war in Grein die Mannsfahrt aufgenommen worden, seitdem brachte sie der Aufzug in die Tiefe, aber der Abstieg dauerte immer noch knapp zwei Minuten.
Paulsen hing sein Ölgewand an den Haken und nahm seine Marke vom Mannsfahrtbrett. An den fehlenden Marken sah er, dass seine Schichtarbeiter schon unten waren. Grieg nahm drei Helme aus dem Regal und verteilte sie. Die Männer stiegen in die Kabine, die sie in eine Tiefe von 350 Metern bringen würde. Dittrich drängte sich zu ihnen, augenblicklich beschlug seine Brille. Grieg zog das Gitter zu und verriegelte die Kabine.
»Mannsfahrt ab!«, rief der Fördermaschinist und legte den Hebel um. Der Motor tuckerte und die Zahnräder begannen zu knirschen. Die Rollen setzten sich in Bewegung, die Kabine fuhr ab und ihre Schicht begann. Langsam verschwand das Licht vom Eingang und es wurde dunkel. Nur eine nackte, schwache Glühlampe flackerte an der Kabinendecke. Der Gestank von Öl und Diesel verlor sich, je weiter sie nach unten kamen. Es miefte nach Wurzeln und feuchter Erde.
Grieg rieb sich die Hände. Paulsen knöpfte seinen Kittel zu, eine schwarze Bergmannstracht mit Goldknöpfen und siebenzackigem Schulterkragen. Darüber trug er einen braunen Mantel mit Kapuze. »Warum habt ihr nicht in der Kantine auf mich gewartet?« Er glaubte, die Antwort bereits zu kennen, daher ließ er die Frage beiläufig klingen.
»Ist der Deutsche noch in der Kantine?« Grieg spuckte demonstrativ auf den Boden.
»Erich Göttmann?«, rief Paulsen, um das Motorengeknatter und das plötzliche Scheppern des Gitters zu übertönen. Er hatte noch vor wenigen Minuten mit ihrem ausländischen Gast aus einem Blechnapf heißen Kaffee getrunken. Sie hatten sich über die Fördermengen der letzten Monate unterhalten. »Was hast du gegen ihn?«
»Grieg mag keine Deutschen.« Dittrich grinste. »Mehr noch, er hasst sie regelrecht!«
»Junge, du hast keine Ahnung.« Grieg schüttelte den Kopf.
»Was schmeckt dir nicht an Göttmann?«, hakte Paulsen nach.
Grieg bekam ein finsteres Gesicht. »Woher will der wissen, wie viel Kohle noch unterhalb des abgebauten Flözes lagert? Ich sage dir, der hat so viel bergmännische Kenntnis wie ein junger Maulwurf, der sein erstes Loch gräbt!«
»Aber er ist der Schürfungs-Kommissär aus Berlin.«
»Gibt es in Berlin Steinkohlenbergwerke?«, fauchte Grieg.
Paulsen und Dittrich starrten sich an, gaben aber keine Antwort.
»Eben!«, fuhr Grieg fort. »Der führt nur eine große Klappe und hat keine Ahnung.« Er konnte sich unheimlich reinsteigern. Paulsen kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er den ganzen Tag über keine Ruhe geben würde, bis er die gesamte Schichtpartie gegen Göttmann aufgewiegelt hatte. Und es war ihm zuzutrauen, dass er das schaffte! Er hätte Grieg nie dem Deutschen vorstellen dürfen. Was für ein Fehler! Doch auch ohne das peinliche Gespräch im Büro des Betriebsleiters hätte Grieg von Göttmanns Ankunft erfahren. In einem Bergwerksort wie Grein blieben Neuigkeiten nie lange geheim.
Grieg hakte sich mit den dürren Fingern in das Gitter der Kabine. »Die Lagerung
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