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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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erzählte, dass sie nicht ganz richtig im Kopf sei, wurde immer wieder im Ort gesehen, wie sie ihr Kind im Arm trug. Es war im Spätsommer und viele dachten, sie wasche sich nicht, doch als man ihr Wochen nach der Geburt das Bündel aus dem Arm nahm, erkannte man, dass nicht sie es war, die den süßen, aufdringlichen Gestank verbreitete.
    Eines Tages tauchen die toten Kinder wieder auf. Eines Tages wird man sie finden, nicht in den Äckern, in den Senkgruben und in den Armen der Schwachsinnigen. Auch in der Gaslight Bar werden sie versteckt. Tote Kinder unter den speckigen Bodenbrettern, hinter dem abfallenden Putz, verborgen im Fundament des Kellers. Verstümmelt, an die Stahlkonstruktion gefesselt, mit weit aufgerissenen Wunden, in denen das Fleisch weiterwächst, das Gewebe wuchert und sich vermehrt.
    Inmitten des faulen Geruchs steht Wolfgang Heck. Sein Feuerwehranzug ist blutig, er watet durch menschliches Gewebe, sinkt knietief ein.
    »Körner wird uns helfen, die Sandsäcke zu füllen.«
    Heck drückt ihm einen leeren Jutesack in die Hand. Seine Finger sind blutig.
    »Wir müssen alles wegschaffen, bevor der Regen kommt. Pack an!«
    Heck sieht ihm fanatisch in die Augen. »Komm nicht zurück, Alex! Bleib, wo du bist. Du kannst deine Mutter nicht retten. Sie ist hier bei uns.«
    Heck wedelt mit den Armen und versucht, ihn mit wilden Gesten zu vertreiben.
    »Komm nicht zurück! Du wirst genauso verbrennen wie sie.«
    Die Flammen züngeln und greifen nach ihm. Seine Haut brennt, das Feuer lodert an seinem Arm hinauf, bis zur Schulter. Die Haare verdampfen, das Fleisch wirft Blasen. Er spürt die Finger seiner Mutter. Er will nach ihrer Hand greifen, doch sie sitzt auf der brennenden Küchenbank und rührt sich nicht von der Stelle.
    Er ruft nach ihr, will sie aus den Flammen zerren, doch sie hilft nicht mit. Sie bleibt sitzen, und er ist zu schwach, sie aus den Flammen zu reißen.
    »Mama!«
    »Geh mein Junge, ich bleibe hier.«
    »Mama! Komm!«
    »Ich kann nicht.«
    Schreiend fuhr Körner hoch. Er schlug mit der Hand nach seinem Arm, um die Flammen zu ersticken, doch da waren keine Flammen, keine Hitze, kein Feuer. Er hatte im Reflex den Telefonapparat von der Couch geworfen; der Hörer war über den Teppichboden gesprungen. Das Freizeichen holte ihn in die Realität zurück. Das Wohnzimmer! Sein Wohnzimmer. Das Fernsehgerät lief. Die rote Anzeige am Videorekorder zeigte 03.20 Uhr. Er war in Wien, nicht in Grein am Gebirge, sondern in seiner Wiener Wohnung in Sicherheit.
    »Verdammt.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein nackter Oberkörper war nass. Ihn fröstelte.
    Langsam öffnete er die linke Hand, die zur Faust verkrampft war. Er hatte sich die Fingernägel in den Handballen gegraben. Die zerknitterte Zeichnung der Reporterin kam zum Vorschein. Er hatte das Blatt im Traum zu einem Papierball zerknüllt.
    »Herrgott!«
    Er ließ sich auf die Couch fallen und atmete tief durch. Über zwanzig Jahre hatten sie ihn in Ruhe gelassen, doch jetzt waren sie wieder da, die Albträume, die ihn in seiner Kindheit heimgesucht hatten. Das war erst der Anfang, und er wusste, es würden noch schlimmere kommen. Bevor sie ihn innerlich auffraßen, musste er den Mörder finden.
    Er schaltete das Licht und den Fernsehapparat aus, nahm eine Decke, legte sich auf die Couch und hoffte, traumlos zu schlafen.

Rückblende I Grein am Gebirge, 1937
     
    Es war ein schrecklicher Septembermorgen. Der Wind fegte das Laub aus den Wäldern über den Hügel des Bergwerkstollens und die angrenzende Verladerampe. An der Wagonwaage baumelte das verbeulte Schild der Gschwendtner Steinkohlenbergbau AG. Die schwarze Farbe des Bergbausymbols war teilweise abgeblättert, sodass die gekreuzten Schlägel und Eisen nur noch schwer zu erkennen waren. Die aus Wellblech errichteten Werkstätten- und Kanzleigebäude am Fuße des Bergs wirkten wie winzige Bauklötze. Kaum zu glauben, dass die Hütten für eine Belegschaft von nahezu zweihundert Mann hingestellt worden waren. Allerdings befand sich niemals die komplette Mannschaft vor Ort, da der Berg im Dreischichtbetrieb angefahren wurde. Die meisten Kumpel arbeiteten ohnehin untertag in den Stollen, welche die Grubenarbeiter innerhalb der letzten Jahrzehnte in den Hohen Gschwendt geschlagen hatten … dort unten war genügend Platz für alle.
    Die Hupe neben dem Kompressor röhrte: Schichtwechsel! Die Blechtür flog auf. Als Paulsen ins Freie trat, schlug er den Kragen seines Ölzeugs

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