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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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vom Getrampel der Männer unterbrochen. Sein Trupp, eine Hand voll Arbeiter, kam ihnen entgegen, angeführt von Degel, dem Bergjungen.
    Grieg bemerkte das Gepolter der Männer gar nicht, er war in Gedanken versunken und murmelte vor sich hin. »Ich habe es schon vor zwei Wochen gesagt: Wir brauchen eine Gleichstrommaschine mit hundertzehn Volt Spannung. Der Elektromotor betreibt die Pumpe, die das Wasser bis über den Tag drückt. Ohne die ersaufen wir.«
    »Blödsinn!« Degel stand vor Grieg, die Hände in die Taschen gesteckt. Er arbeitete seit drei Wochen als Säuberer in der Grube und brachte die Kohlenstücke vom Abbau zu den Grubenhunten.
    »Was?« Grieg stützte die Hände auf die Knie, beugte sich nach vorne und starrte Degel direkt ins Gesicht. »Was sagst du da, Kleiner?«
    Degel wandte abrupt den Blick von Griegs Gesicht ab und spuckte auf den Boden. Wollte er sich den Männern anpassen und ruppig wirken? Paulsen grinste. Auf ihn wirkte der Junge höchstens lächerlich. Jeder wusste, er war der Sohn des Betriebsleiters. Er musste ihnen nicht beweisen, dass er zäh war und zu ihnen gehörte. Jeder, der in der Grube schuftete, zählte automatisch zu ihnen - und der Berg machte sie zwangsläufig hart, das war nur eine Frage der Zeit. Besser, der Junge blieb so natürlich, wie er war.
    Degel reckte das Kinn nach vorne. »Vater sagt, in dieser Tiefe haben wir keinen Wassereinbruch zu befürchten, und du machst uns noch alle verrückt mit deinen Hirngespinsten.«
    »Hirngespinste?«, brummte Grieg.
    Da wurde es still. Niemand nannte Griegs Worte ein Hirngespinst, und schon gar kein Knirps, der erst seit drei Wochen in der Grube arbeitete und noch dazu der Sohn eines Tischplattenpolierers war. Niemand wagte sich zu bewegen, alle glotzten Grieg gespannt an.
    Der Alte räusperte sich und legte Degel die krumme Hand auf die Schulter. »Hast du schon mal einen Wassereinbruch in dreihundertfünfzig Metern Tiefe erlebt? Der Strom fällt aus, es ist stockdunkel und kalt… so scheißkalt, dass du nach einer Stunde unterkühlt bist.« Er packte den Jungen mit seinen steifen, verkrümmten Fingern an der Wange. »Das Wasser hat drei Grad. Deine Lippen werden blau, deine Finger gefühllos, dein Herz schlägt langsamer, plötzlich wird dir warm, du stirbst und merkst es nicht einmal.«
    Der Junge schluckte. Er öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch Paulsen unterbrach ihn. »Pass auf, was du sagst, Kleiner! Grieg schürfte schon 1898 im Bergwerk, zu einer Zeit, als die Kumpel mit Dochtlampen im Schacht arbeiteten und mit einem Schweifhunt die Kohle förderten. Wenn er sagt, wir brauchen eine Pumpe, dann brauchen wir eine! Verstanden? Und hier unten möchte ich das Geschwätz deines Vaters nicht hören! Es genügt mir, wenn ich es oben höre. Von seinem Büro aus kann er uns nicht helfen, wenn wir hier unten ersaufen.«
    Alle schwiegen und Degel sah betroffen zu Boden. Aber Paulsen wusste von seinem Vater, dass Grieg, auch wenn er so hart und abgebrüht wirkte, einen weichen Kern besaß. Grieg und sein Vater hatten vor vierzig Jahren im Berg zu schürfen begonnen und waren zu jener Zeit Kumpel in der gleichen Schicht gewesen … so lange, bis sein Vater verschüttet wurde. Paulsen kannte die Erzählung: Kurz vor Schichtwechsel stürzte die Holzkonstruktion ein und mehrere Tunnel wurden komplett verschüttet. Grieg war bei dem Unfall dabei gewesen, aber er hatte Paulsens Vater nicht mehr befreien können.
    »Die alte Schicht fährt rauf, der Rest geht an die Arbeit!«, befahl Paulsen. »Wir sollen die Grube erweitern und die Sohle tiefer legen.«
    Sie hörten ein Knirschen und fuhren herum. Jemand kam vom Ende des Stollens gelaufen. Er war der alte Zetko. Er stolperte, blieb keuchend vor ihnen stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Gnoll hat ein merkwürdiges Ding freigelegt…«
    »Gnoll hat noch nie was freigelegt«, murrte jemand. Einige schmunzelten.
    »Ruhe!« Karmann verschränkte die Arme vor der Brust.
    Zunächst hörten sie gar nicht, was Zetko stammelte. Erst als ihm Grieg mit der Lampe ins Gesicht leuchtete und sie sahen, dass er so blass war, als habe man ihn in einen Eimer eiskaltes Wasser getaucht, verstummten sie.
    »… ein schwarzes Ding mitten im Boden. Gnoll hat es mir gezeigt«, krächzte Zetko.
    »Gnoll hat auf den Boden geschissen!«, rief Karmann und alle lachten.
    »Idioten.« Zetko wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Das Ding ist so lang und ragt einfach aus der Erde

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