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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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der Flöze ist unregelmäßig. Wir wissen das! Aber was weiß der schon von tektonischen Störungen und Verwerfungen?«
    »Erkläre es ihm«, schlug Paulsen vor.
    »Wir haben acht Betriebspunkte, und der hat sich bisher keinen einzigen angesehen«, regte sich Grieg weiter auf. »Den interessieren bloß Liefertermine und die Erhöhung der Fördermengen. Glaubst du, ich weiß nicht, worüber ihr gesprochen habt? Der Auftrag lautet: Kohle - noch mehr Kohle! Überstunden, Sonderschichten. Einen Begriff wie Staublunge kennen die Großkopfeten nicht. Von denen macht sich keiner die Hände schmutzig.«
    Das konnte ein Tag werden! Grieg war in Rage. In Momenten wie diesen kam sein gesamter aufgestauter Zorn gegen die Tischplattenpolierer heraus, wie er die Männer im Vorstand nannte. Grieg war kein Diplomat, er kannte weder subtile Kritik noch vernünftigen Meinungsaustausch, für ihn gab es nur die Guten und die Schlechten - die Guten arbeiteten in der Grube, und die Schlechten in den Büros. Die Guten unten, die Schlechten oben, denn von oben konnte man hinuntertreten und die Unteren Staub fressen lassen. Das war Griegs simple Welt, so funktionierte sie für ihn seit vierundfünfzig Jahren. Paulsen hatte sich oft gefragt, weshalb Grieg den Posten im Büro ausgeschlagen hatte, der ihm nach seinem Unfall angeboten worden war. Mit seinem Wissen hätte er den Laden besser führen können, alsjene Männer, die den Berg nie von innen gesehen hatten. Doch Grieg war seit seinem fünfzehnten Lebensjahr in der Grube und hatte immer jeden Kontakt mit den Großkopfeten vermieden, obwohl ihn alle kannten und wussten, was er leistete. Paulsen glaubte, den Grund zu kennen. Kaum stand Grieg einem Mann mit Anzug und Krawatte gegenüber, bekam er einen Kloß im Hals, der so groß wurde, dass er nicht mehr atmen konnte. Bevor sich Grieg in ein Büro mit Tageslicht hockte, arbeitete er lieber Seite an Seite mit seinen Kumpeln im Bergwerksstollen, fraß Staub, schürfte sich in der Dunkelheit die Hände blutig und ruinierte sich die Gelenke in der Nässe und Kälte. Auch wenn es Paulsen in der Seele schmerzte, mit anzusehen, wie Grieg im Berg verkümmerte, so konnte er froh sein, dass er einen Kumpel wie ihn in seiner Mannschaft hatte. Alle hörten auf Grieg, sein Wort zählte, denn er war derjenige unter ihnen mit der größten Erfahrung. Und in einem verteufelten Berg wie dem Hohen Gschwendt hatten sie diese Erfahrung bitter nötig.
    »Ihr werdet es noch sehen«, spie Grieg aus. »Die ändern die Vorschriften bei der Qualitätsprüfung nach brauchbarer Steinkohle.«
    »Brauchbar wofür?« Dittrich rümpfte die Nase.
    Grieg sah ihn entgeistert an, als liege die Antwort auf der Hand. »Für die Rüstung!«
    »Wir rüsten doch nicht.« Dittrich schmunzelte, er und Paulsen warfen sich einen Blick zu.
    »Wir nicht, aber Deutschland. Göttmann kommt aus der Höhle des Löwen: Berlin.« Grieg zog eine verächtliche Grimasse. »Weißt du, was das bedeutet?«
    Dittrich schüttelte den Kopf. »Na und? Was haben wir mit Deutschland zu tun?«
    Grieg senkte die Stimme. »Man munkelt, Hitler will Österreich und die Tschechei niederwerfen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Deutsche Wehrmacht über die Grenze marschiert.
    Verflucht, einen Krieg habe ich schon erlebt, da habt ihr beiden noch in die Hosen geschissen. Ein zweiter würde uns gerade noch fehlen.«
    »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass die Rüstung der Deutschen etwas mit uns und unserem Berg zu tun hat?« Dittrich stapfte am Kabinenboden auf. Das Gitter schepperte.
    Grieg lachte laut auf. »Was denn sonst? Woher glaubst du, bekommen die Deutschen ihre Panzer? Und wer verdammt liefert in Österreich den besten Koks für Feuerarbeiten?«
    Plötzlich wusste Paulsen woher der Wind wehte. »Da ist etwas dran, aber warum geht Göttmann nicht nach Grünbach am Schneeberg? Dort ist das nächste Steinkohlenbergwerk. Die haben eine größere Förderleistung. Wir haben nur eine Jahresfördermenge von achtundvierzigtausend Tonnen.«
    »Sperr die Ohren auf, Kleiner!« Grieg senkte die Stimme. »So viel ich gehört habe, war der Deutsche schon dort. In Grünbach und Zillingdorf haben sie bereits Verträge mit Berlin unterschrieben. Wir sind die letzten, die auf seiner Reiseroute liegen.«
    Sie schwiegen. Die Kabine ruckelte und setzte unsanft auf. Sie waren am achten und jüngsten Betriebspunkt angelangt: in einer Tiefe von 350 Metern. Bis zu jener Stelle war der Schacht abgeteuft. In der so

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