Der Judas-Schrein
genannten dritten Tiefbausohle lag ein immens großer Steinkohlenvorrat. Der Stollen lief bereits achthundert Meter in den Berg hinein. Bisher hatten sie das Ende des Zugs noch nicht erreicht. Wie lang der Flözzug tatsächlich war, wusste niemand. Konkrete Pläne für die nächsten hundert Meter Tiefe lagen in den Schubladen des Bürogebäudes, doch erst, wenn diese Sohle abgebaut war, würden sie grünes Licht für die nächste erhalten … bis dahin würden sie die Gleise für die Grubenhunte tiefer und tiefer in den Berg treiben, bis sie den letzten Steinkohlensplitter aus der Wand gekratzt hatten.
Grieg zog das Gitter auf und trat aus der Kabine. »Scheißkalt«, fluchte er.
Dittrich und Grieg knöpften ihre Jacken zu. Eigentlich sollte hier unten eine Temperatur von 32 Grad herrschen, aber das um das Kohlengebirge zirkulierende Wasser wirkte wie ein Kühlmantel und ließ die Gesteinstemperatur auf 18 Grad sinken … heute Morgen sogar auf 16 Grad. Paulsen schnippte mit dem Fingernagel gegen den Gradmesser. Er glaubte nicht, dass sich der Berg noch erwärmen würde - im Gegenteil, seit Tagen fiel die Temperatur. Der Berg kühlte regelrecht aus.
»Hier!« Dittrich reichte ihm eine Handlampe. Die züngelnde Flamme erhellte den Stollen vor ihnen. Das Tuckern des Kompressors und das Schlagen der Schrämmaschinen dröhnten ihnen entgegen. Sie betraten den Hauptstollen und gingen unter dem hölzernen Türstockbau hindurch. Die nagelneue Zimmerung war perfekt. Grieg hatte staubtrockenes, ein Jahr lang gelagertes Holz angefordert, und sie hatten es wirklich bekommen. Manchmal hörten die Herren im Vorstand tatsächlich auf Grieg.
Nach dreihundert Metern blieb Grieg am ersten Sicherungspunkt stehen. Der Alte kniff sein gesundes Auge zu und blickte auf die Wetterlampe, die vom Deckenbalken hing. Anhand der Benzingaslampe konnten sie den Sauerstoffgehalt der Luft messen. Aber Paulsen wusste auch ohne die Lampe, dass es hier unten besonders stickig war. Ihm kratzte der Hals. »Der Luttenfächer.« Paulsen nickte zum Grubenventilator.
»Defekt«, knurrte Grieg missmutig und schlug mit der flachen Hand auf das Gerät. Der Ventilator blies ihnen schwach seine Luft entgegen. Daneben hing ein Dutzend Atmungsschutzgeräte an der Bretterwand.
»Weiter!«, drängte Paulsen. Sie gingen stumm entlang der Grubenschienen, die durch Keile an nagelneuen Holzschwellen befestigt waren. Paulsen zog den Bauch ein und zwängte sich an einem Grubenzug vorbei, einer gemischten Garnitur, die aus einer fahrbaren Rutsche, einem Kipp- und zwei Holztransportwagen bestand. Im ersten Grubenhunt lag splittriger Bruch, pechartig, fettig glänzende Steinkohle. Daneben standen eine Herzschaufel und ein Unterschlagkrampen. Welcher Idiot hatte das Werkzeug hierhin gestellt? Paulsen fluchte und räumte den Weg frei.
Grieg griff in den Wagen und rieb einen Splitter zwischen den Fingern. Er roch daran. »Wir haben den besten Koks. Die Deutschen wissen das.«
Jetzt ging das wieder los! Paulsen packte Grieg an der Schulter und zog ihn weiter zur Dampfmaschine. Der Kompressor holperte auf dem Boden, und sein Schlauch quoll wie ein dicker Wurm in den Stollen hinein. An seinem Ende wurde die Schrämmaschine durch Pressluft betrieben. Da erstarb das Geräusch. Die plötzliche Stille hallte Paulsen wie ein Sirren in den Ohren. Lautes Fluchen drang durch den Tunnel zu ihnen.
»Eure Schicht ist zu Ende und ihr Pappenheimer lasst alles liegen und stehen!«, rief Paulsen in den Stollen.
»Der Bohrhammer ist gebrochen«, drang es aus der Dunkelheit. Das Licht einer Lampe hüpfte auf und ab. Karmann stapfte ihnen mit wutverzerrtem Gesicht entgegen.
»Ihr Idioten könnt keine Schicht beenden, ohne etwas zu ruinieren«, brummte Grieg.
»Ach, leck mich!« Karmann nahm den Helm ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er wandte sich um und leuchtete mit der Lampe in den Tunnel. »Schichtwechsel, Leute!«, brüllte er, worauf er Schaufelklirren und dumpfes Gemurmel als Antwort erhielt.
»Wo sind meine Leute?«, fragte Paulsen.
Karmann deutete zum Schrägstollen. »Gleise legen … was haltet ihr davon?« Er nickte zur Wand.
Grieg legte die Hand auf die Tunnelwand und rieb den Stein zwischen den Fingern. Er leckte mit der Zunge an einer Fingerkuppe. »Es wird feucht. Falls wir tiefer graben, fahren wir eine Sandsteinzone an, dann haben wir Wassereinbruch. Der gesamte Stollen ersäuft und wir können ihn auskübeln.«
»Was schlägst du vor?« Karmann wurde
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