Der Judas-Schrein
Luft.
Während sie im Schritttempo über die Brücke fuhren, sahen sie aus dem Fenster. Ein gutes Dutzend Männer in Regenmänteln zog Sandsäcke von der Ladefläche eines Lastwagens. Die Helfer bildeten eine Kette und reichten sich die Säcke bis zur Deichkrone, wo sie die Stücke kreuzweise stapelten. Als Wiener kannte Körner die Vorbereitungen gegen eine Überschwemmung nur aus den Fernsehnachrichten, aber er war davon überzeugt, dass die Greiner genau wussten, was sie taten und worauf sie achten mussten. Ein derartiges Hochwasser erlebten sie schließlich nicht zum ersten Mal.
»Sagenhaft«, murmelte Berger. Tausende Säcke erhöhten die Deichkrone. Wie ein weißes Band verlief der künstliche Wall entlang des Deichs, vierzig Zentimeter tiefer schoss die braune Flut dahin. Die Männer wirkten ausgemergelt, als hätten sie die gesamte Nacht durchgearbeitet. Der Anblick erinnerte Körner an seine eigene Nacht, an die wiederkehrenden Albträume und wirren Fantasien, die ihn in seinem Dämmerschlaf verfolgt hatten. Obwohl er ein Schmerzmittel genommen hatte, litt er unter einer Nackenverspannung und pochenden Kopfschmerzen.
»Wie haben Sie geschlafen?« Er betrachtete Berger, die noch immer aus dem Fenster starrte und die kalte Luft einsog.
»Hundsmiserabel.« Sie ließ die Scheibe hochfahren. »Ich habe mich herumgewälzt, bin ein Dutzend Mal aufgestanden, habe ein Glas Wasser getrunken und hatte trotzdem wieder den gleichen schrecklichen Traum.«
»Vom Geiselnehmer, der sie angeschossen hat?«, fragte er naiv, obwohl er fürchtete, den Inhalt ihrer Träume genau zu kennen.
»Angeschossen?« Sie runzelte die Stirn. »Mir scheint, als sei es Jahre her. Nein, ich träumte von diesem Ort.«
Volltreffer!
»Ich träumte vom Bürgermeister, dem Dorfarzt, von dem Gendarmen, der vor dem Eingang der Diskothek lehnte, von Bert Krajnik, der in seiner Küche stand und von der Wirtin des Braunen Fünfenders. Es ist verrückt, doch in meinem Traum hatten alle das gleiche Gesicht. Ich konnte sie nicht auseinander halten, wo immer sie auftauchten, egal wohin ich ging … und ich marschierte ununterbrochen die endlose Hauptstraße endang, mitten im Regen. Die Vorhänge waren zugezogen und trotzdem wusste ich, dass sie mir hinterherstarrten. Und dann träumte ich von Sabines Tod … aber das erspare ich Ihnen lieber.«
Körner schwieg. Seine eigenen Träume ersparte er ihr besser auch.
»Diesmal fahren Sie nicht ohne mich heim«, warnte sie ihn.
»In Ordnung.« Während der Fahrt nach Grein hatte Körner Radio gehört und an nichts gedacht, doch jetzt, da sie an Tonis Tankstelle und der Bushaltestelle vorbeifuhren, waren mit einem Mal alle Details des Falls in seinem Kopf präsent. »Haben Sie heute Morgen Zeitung gelesen?«
Sie schüttelte den Kopf. Körner kramte die Morgenausgabe aus dem Seitenfach und legte sie Berger in den Schoß. »Nur das übliche Geschwätz und die Falschmeldungen, die wir an die Presse gegeben haben. Über unsere Augenzeugin steht nichts drin.«
Berger blätterte die Zeitung auf. »Wie geht es ihr?«
»Sie ist noch immer vollkommen weggetreten. Der Arzt in Kierling hat einen Psychiater hinzugezogen. Das kann dauern, bis wir da an Informationen rankommen.«
»Aha.« Sie las nur die Schlagzeile, knüllte die Zeitung zusammen und warf sie auf die Rückbank zu ihrer Sporttasche, in die sie eine Regenjacke und trockene Bekleidung für die Heimfahrt gepackt hatte.
Er hatte ebenfalls seinen Regenmantel auf dem Rücksitz deponiert. So klitschnass zu werden wie gestern, würde ihm nicht noch einmal passieren. Laut Wettervorhersage würde es auch heute nicht aufhören zu schütten, und gerade an diesem Tag hatten sie ein volles Programm: Zuerst wollten sie sich den Dorfarzt vorknöpfen, danach Martin Goisser und anschließend noch einmal Sabines Eltern einen Besuch abstatten.
Doktor Webers Praxis lag direkt an der Hauptstraße, jedoch fast am Ortsende. Der Bungalow mit Flachdach war eines der letzten Häuser, danach folgten nur noch einige Viehställe, der Friedhof und der Stolleneingang des stillgelegten Bergwerks. Die Straße führte daran vorbei, endang des Waldrands am Fuß des Hohen Gschwendts und verschwand hinter einer Biegung Richtung Heidenhof.
Körner parkte den Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Arztpraxis. Von außen wirkte das gelb angestrichene Haus wie ein Kindergarten. Auf den großen Fenstern klebten Windowcolours mit Motiven aus Zeichentrickfilmen und unter
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