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Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Read
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getötet hatte oder dass ich schwanger war.
    Ich stand auf und ging auf ihn zu.
    »Du warst wahnsinnig schnell«, sagte ich, während ich mich auf die Zehenspitzen stellte, um ihn auf die Wange zu küssen. »Ich dachte, du bist nicht vor Mitternacht hier. Du musst mit dem Porsche die Schallmauer durchbrochen haben.«
    »Bunny, ich bin nicht gefahren.«
    »Du kommst doch direkt aus La Tuque?«
    »Nein«, sagte er. »Hör zu, können wir uns mal setzen?«
    Sein Gesicht war aschfahl.
    Ich spürte die kalten, ahnungsvollen Finger der Angst wie Dornenranken um mein Herz. »Ich will mich nicht setzen. Sag es mir hier.«
    Sag es mir, wenn ich stehe, damit es nicht so wehtut. Damit ich davonlaufen kann.
    Er zog mich an sich und drückte meine Wange sanft an seine Brust. »Astrid ist tot.«
    »Nein, ist sie nicht«, sagte ich.
    »Sie hat den Porsche genommen – sie hat die Schlüssel aus meinem Schreibtisch geklaut. Die Polizei geht davon aus, dass sie mit hundertfünfzig Sachen gegen die Betonwand gerast ist. Sie ist einfach darauf zugeschossen – ohne auszuweichen, ohne zu bremsen.
    Nein, ist sie nicht. Nein, ist sie nicht.

66
    Pagan zog mich am folgenden Morgen hinter die Kirche, um ein letztes Mal frische Luft zu schnappen, bevor die Katastrophe ins Rollen kam.
    Unsere Haarreifen saßen fest, die karierten Taftkleider waren frisch aufgebügelt, doch wir hatten uns Mäntel und Duckboots übergezogen, bevor wir hinaus in die Kälte getreten waren.
    Ich spürte nichts.
    »Es tut mir so leid wegen Astrid. Und wegen der ganzen Sache mit dem Prozess«, sagte Pagan.
    Ich antwortete nicht.
    »Wie geht’s dir?«, fragte sie.
    Ich fing wieder zu weinen an.
    »Der arme kleine Junge«, sagte sie. »So eine Scheiße.«
    Ich konnte nicht antworten.
    »Kyle hat gestern gesagt, wir könnten die Sache nur verarbeiten, indem wir das Universum bitten, Teddys neugeborene Schwester zu beschützen.«
    »Als hätte sie nur den Hauch einer Chance.«
    »Vielleicht hat sie eine.«
    Das glaubst du doch selbst nicht .
    Pagan breitete die Arme aus und sah hinauf in den weißen Himmel über Maine. Dampfwolken stiegen aus ihrem Mund auf.
    »Komm«, sagte sie und stupste mich mit der Gummispitze ihres Stiefels an. »Wir müssen es tun.«
    Wir gaben uns die Hände und senkten den Kopf.
    »Liebes Universum«, sagte sie. »Es ist echt wichtig, dassdu dich um dieses kleine Mädchen kümmerst. Sie hat deine Hilfe bitter nötig.«
    Und Astrid auch. Und Teddy auch.
    Wenn es da draußen irgendwas gibt, das einem Rettungsboot ähnelt, haben sie beide einen Platz darin verdient.
    »Danke, Universum«, sagte Pagan. »Du bist echt spitze.«
    Wir standen noch eine Weile schweigend da, dann stapften wir durch den Schnee zur Kirchentür.
    »Warum sind wir überhaupt hier?«, fragte ich.
    »Auf Moms Hochzeit?«
    »Auf dem Planeten.«
    »Um Erleuchtung zu suchen, schätze ich«, sagte Pagan.
    »Und was soll das sein?«
    Meine Schwester dachte einen Moment nach.
    »Erleuchtung«, sagte sie schließlich, »ist, wenn man kein Arschloch ist.«
    Und dann öffnete sie die Tür.

CARMEL, KALIFORNIEN
Sommer 1978
    … verschiedene Kehlen stimmen eine Sprache an.
    Ich glaube fest, wären wir stark genug, auf sie zu hören – ohne Angst –,
    auf den Sturm der kranken Nationen, auf den Zorn der hungernden Städte,
    die Stimmen wären so rein
    wie Kinderstimmen.
    »Natürliche Musik«, Robinson Jeffers
    Bestimmt kann das Band des gemeinsamen Glaubens, das Band des gemeinsamen Ziels uns etwas lehren. Bestimmt können wir zumindest lernen, die Menschen um uns als Mitmenschen zu sehen, und bestimmt können wir anfangen, uns ein wenig mehr Mühe zu geben, die Wunden zwischen uns zu versorgen und im Herzen wieder Brüder und Landsleute zu werden.
    Robert F. Kennedy
    Cleveland City Club, Ohio
    5. April 1968

Mom saß am Steuer unseres kleinen Pacer, und wir hatten gerade die Kuppe hinter den Artischockenfeldern erreicht, unterwegs auf dem Highway One von Carmel nach Süden. Zu unserer Rechten wand sich die weiße Schulter von Monastery Beach bis runter zum Point Lobos. Links, über dem Kloster, tupften schwarze Kühe die honiggelben Weiden, die zur Stuyvesant Fish Ranch auf dem Hügel gehörten.
    Hinter uns hörte ich das kehlige Röhren eines Motorrads, das in unserem Windschatten über die Kuppe rauschte. Es war eine Woche her, seit ich Moms Exfreund Pierce mit dem Küchenmesser verjagt hatte.
    »Ich finde, Stuyvie könnte mich ruhig mal da oben zum Mittagessen einladen«, sagte

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