Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
den Höhlen kullerten.
»Skwarecki«, knurrte ich, »raus damit . «
Die Ermittlerin sah den Gehweg hinunter. »Ich muss aufs Revier. Wie lang sind Sie noch hier?«
Cate warf einen Blick auf die Uhr. »Zwei Stunden.«
»Ich habe Mrs Underhill gesagt, dass ich vorbeikomme«, sagte ich, »aber könntest du mich nachher in Locust Valley vorbeifahren, Cate?«
Cate nickte, und Skwarecki pfiff durch die Zähne. »Locust Valley. Wenn das nicht schick ist.«
»Ich muss da einen Wagen aus einer Scheune holen«, erklärte ich.
Ich verschwieg, dass der Wagen ein Porsche war, den ich brauchte, um übers Wochenende nach Southampton zu fahren, und was zwischen mir und seinem Vorbesitzer passiert war, bevor ich erfuhr, dass er ihn mir hinterlassen hatte. Dafür schien mir nicht der richtige Moment.
Ich meine, ich hatte das Gefühl, Skwarecki begann gerade, mich zu mögen, und es war wirklich eine sehr lange Geschichte.
Skwarecki stieg in ihren Wagen und fuhr los.
»Willst du mit zu Mrs Underhill kommen?«, fragte ich Cate.
»Die arme Frau. Ich weiß nicht, ob ich das verkrafte, Madeline.«
»Es tut mir leid, wenn ich dich hier allein lasse. Kommst du klar?«
»Ja, sicher«, sagte sie. »Ich bin schon den ganzen Morgen hier. Bitte sag Mrs Underhill, wie leid mir alles tut. Wir sehen uns in zwei Stunden, okay?«
»Gut«, sagte ich. Aber auch mir graute es vor dem Besuch.
22
Mrs Underhill wohnte in der backsteinverkleideten linken Hälfte eines Doppelhauses, wie man sie aus amerikanischen Fernsehserien kannte – Archie Bunker und Konsorten –, wo jeder Wand an Wand mit den architektonischen Launen des Nachbarn leben musste: altenglisches Fachwerk neben spanischem Kolonialstil, die Flintstones neben den Jetsons.
Die Autos auf der Straße waren alt, aber majestätisch: riesige robuste amerikanische Modelle in müden Farben, Avocadogrün, Kupfer metallic und Erntegold. Kein Honda in Sicht, nur Limousinen und Kombis der Big Three – Ford, GM und Chrysler – im Format der siebziger Jahre: Schlachtschiffe, die aussahen, als gehörten sie ins Wasser und nicht auf die Straße.
Als ich mich zwischen den Chromstoßstangen eines goldenen Lincoln und eines schwarzen Cadillac durchzwängte, fragte ich mich, wie sie es geschafft hatten, ohne die Hilfe von Schleppkähnen einzuparken.
Mrs Underhills Backsteinfassade war gefangen in einer lieblosen Ehe mit der plump verschnörkelten, mundwassergrünen Stuckfassade ihres Nachbarn, doch der gemeinsame Vorgarten wirkte wie mit dem Lineal getrimmt. Beim Quietschen des Tors bewegten sich auf beiden Seiten die Vorhänge: synchronisierte Wachsamkeit.
Ich klingelte auf der linken Seite und wartete, bis Mrs Underhill ein gefühltes halbes Dutzend Riegel zurückgeschoben hatte. Sie öffnete die noch immer zugekettete Tür, um mich zu mustern.
»Guten Tag, junge Dame«, begrüßte sie mich.
Ihre Stimme war warm und weich, aber ich hörte, dass sie geweint hatte.
»Komme ich ungelegen?«
»Aber nein, meine Liebe«, antwortete sie. »Lassen Sie mich nur die Kette lösen.«
Obwohl es draußen warm war, trug sie eine dünne Strickjacke über dem Hauskleid, deren oberster Knopf zugeknöpft war.
Ich hörte, wie am anderen Ende der Diele ein Wasserkessel pfiff. »Der Tee ist fertig. Möchten Sie eine Tasse?«
»Das wäre schön.« Ich folgte ihr in die Küche.
Langsam schlurfte sie zum Herd und stellte die Flamme ab. Ihre Füße waren winzig und steckten in kleinen rosa Hausschuhen mit Satinschleifen.
Der Küchenboden glänzte, und auf dem alten Wedgewood-Ofen war kein Fingerabdruck zu sehen.
Es roch nach Meister Proper, und ein Blech mit Keksen stand zum Abkühlen auf einem Drahtgestell. Unten an der Tür des Eisschranks klebte das halbe Alphabet: bunte Plastikmagnete in Kleinkindhöhe.
Wie sollte ein Kind hier zu Schaden gekommen sein? Wie sollte dieser Ort, diese Frau jemanden hervorgebracht haben, der so etwas tat oder auch nur zuließ?
Sie bückte sich und nahm ein Tablett mit Korbgriffen aus dem Regal, das sie auf die Arbeitsplatte stellte. Die Bewegung strengte sie an, und sie drückte sich die Hand aufs Herz.
»Mrs Underhill, geht es Ihnen gut?«, fragte ich.
»Was soll ich sagen. Ich bin nicht mehr die Jüngste.«
Sie war so klein, so dünn.
»Ich finde, Sie sehen toll aus«, sagte ich. »Wie neununddreißig.«
Mrs Underhill lächelte. »Süßholzgeraspel tut der Seele gut. Wenn Sie so weitermachen, lade ich Sie wieder ein.«
»Na dann«, sagte ich, »bei Licht
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