Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
gedacht, dass Sie aus Queens kommen.«
»Ich bin in Kalifornien aufgewachsen«, sagte ich, »aber ich wurde hier geboren. Die Familie meiner Mutter kommt aus Oyster Bay. Die meines Vater kam aus Brooklyn, glaube ich.«
»Edwards Leute waren aus Brooklyn. Na ja, natürlichwaren wir irgendwie verwandt. Der Mädchenname meiner Großmutter war auch Underhill.«
Ich sah in meine Tasse. »In Long Island ist das ein alter Name.«
»Sie interessieren sich für Lokalgeschichte?«
»Meine Schwester und ich haben immer einen Teil des Sommers hier verbracht. Mein Großvater hat uns viel erzählt.«
»Er hat sein Wissen an Sie weitergegeben. Das muss schön sein. Waren Sie deswegen auf dem Friedhof?«, fragte Mrs Underhill. »Aus Interesse an den Ahnen?«
Ich nickte, doch ich wollte sie nicht mit meinen Schuldgefühlen wegen der Indianermassaker und der Sklavenhaltung belasten, die aufs Konto meiner Familie gingen, oder mit der Tatsache, dass auch sie und ich möglicherweise verwandt waren.
Von solchen Gedanken abgelenkt, war mir das Gespräch schon wieder entglitten, und wir schwiegen uns an.
»Bitte, nehmen Sie sich einen Keks«, sagte sie.
Ich warf einen Blick auf Teddys Foto und konnte keinen Bissen runterbringen, doch abzulehnen wäre unhöflich gewesen, also suchte ich mir den kleinsten aus.
»Es ist sehr nett, dass Sie mich eingeladen haben«, sagte ich. »Es muss eine schwere Zeit für Sie sein.«
Ich biss in den Keks. Er war köstlich – brauner Zucker und Butter –, und er zerging auf der Zunge.
Mrs Underhill starrte in ihren Tee. »Heute Morgen hat mich die Polizei angerufen. Mit den Neuigkeiten.«
»Ja, Ma’am.« Der Keks in meiner Hand zerbrach. »Detective Skwarecki hat mir davon erzählt. Es tut mir unendlich leid.«
»Es ist gut, Gewissheit zu haben. So schwer es ist, wenigstens hat das Bangen ein Ende.«
Ich musterte die Kekskrümel und wünschte, ich hätte tröstliche Worte für sie.
»Sind Sie verheiratet, Liebes?«, fragte sie.
»Ja.«
»Haben Sie Kinder?«
»Noch nicht.«
»Ein Kind zu haben verändert alles«, sagte sie. »Als ich Edward heiratete, war es, als teilten er und ich ein Herz. Aber wenn Sie ein Kind haben … Ein kleines Stück Ihres Herzens – das wichtigste Stück – geht mit ihm in die Welt hinaus.«
»Das klingt unheimlich.«
»Ja, und gleichzeitig ist es wunderbar.«
Ihr Blick zu den Fotos auf dem Klavier strafte ihre Worte Lügen.
»Was passiert ist«, begann ich, »Mrs Underhill, ich wollte Sie etwas fragen …«
Doch ich schaffte es nicht, es auszusprechen. Die gerahmten Fotos auf dem Klavier zeigten drei Stücke ihres Herzens, die sie nie zurückbekommen würde: ihren Mann, ihre Tochter und Teddy. Und Skwarecki war gerade dabei, ihr auch das letzte Stück zu nehmen: Teddys Mutter Angela, das einzige Mitglied von Mrs Underhills Familie, das noch lebte.
Sie sah von den Fotos zu mir. »Ja, Liebes?«
»Es tut mir leid.«
Ich schob die Kekskrümel in meine Tasche. Ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich brachte beim besten Willen keinen Bissen mehr herunter.
Ich sah in ihre gepeinigten Augen, und dann sah ich weg, weil ich Angst hatte, selbst in Tränen auszubrechen.
»Miss Dare«, sagte sie. »Madeline …«
»Ja, Ma’am?«
Sie legte sich die zitternde Hand an die Kehle. »Ich wollte Sie um etwas bitten. Ob Sie etwas für mich tun könnten.«
»Bitte. Was Sie wollen.«
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir erzählen, wie Sie Teddy gefunden haben. Alles, woran Sie sich erinnern können.«
Ich schwieg, weil ich mir nicht sicher war, worauf sie hinauswollte.
»Wenn es nicht zu viel verlangt ist, darüber zu sprechen …«, sagte sie.
»Nein, Ma’am. Es ist nur, ich weiß nicht, ob ich irgendwas sagen kann, das Ihnen weiterhilft.«
»Es geht mir nicht um die Ermittlungen. Ich meine nur, wie er dalag, als Sie ihn gefunden haben. Ich habe so viele Nächte wach gelegen und um ihn gebangt, ganz allein da draußen. Verängstigt. Verletzt.«
Sie saß kerzengerade da, und an ihren Wimpern sammelten sich Tränen.
Da verstand ich endlich, worum es ihr ging.
»Er lag in einer kleinen Höhle im Dickicht«, sagte ich, »auf weiches Laub gebettet, neben dem Grabstein eines anderen Kindes.«
Sie schloss die Augen und drückte sich die Faust an die Lippen, die Schultern hochgezogen.
»Auf dem Grabstein war ein Engel«, sagte ich. »Ein kleiner Cherub mit dem süßesten Gesicht.«
Ich rutschte von meinem Sessel und kniete mich vor sie auf den
Weitere Kostenlose Bücher