Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
betrachtet können Sie unmöglich älter als vier unddreißig sein.«
Sie lächelte wieder und klopfte auf das Tablett. »Ich stelle alles hier drauf, und dann setzen wir uns vorne ins Wohnzimmer.«
Ich wusste nicht, wie zum Teufel ich den Sprung zu Teddy und seinen Misshandlungen bewerkstelligen sollte. Egal, was er erlitten hatte, mit ihren zarten gichtgeplagten Händen wäre Mrs Underhill jedenfalls nicht in der Lage dazu gewesen.
War es Skwarecki überhaupt recht, wenn ich fragte?
Wir waren hier nicht irgendwo in der Provinz, und das Einsatzgebiet des NYPD schien mir kein Spielplatz für Amateure zu sein.
Während der Tee in der mit Rosen gemusterten Kanne zog, legte Mrs Underhill ein Zierdeckchen auf einen passenden Teller und stapelte warme Kekse darauf.
»Nehmen Sie Sahne und Zucker?«
Ich sagte: »Nein, danke«, weil ihre Hände schon so müde waren, dass die Teetassen gegen die Untertassen klapperten.
»Lassen Sie mich das Tablett tragen«, sagte ich. »Sie gehen voraus.«
Ich folgte ihr ins Wohnzimmer und stellte das Tablett neben eine Schale mit in Zellophan gewickelten Bonbons auf den Couchtisch.
Mrs Underhill knipste die Lampen an beiden Enden des Chippendale-Sofas an, Porzellanballerinas mit Schirmen in Form von Rüschentutus. Dann ließ sie sich mit knackenden Knien langsam aufs mittlere Kissen nieder.
Ich wusste nicht, wie ich die Unterhaltung wieder in Gang bringen sollte, denn ich wollte nicht damit anfangen, was sie am Morgen schon von der Polizei gehört hatte.
In der Ecke stand ein honigfarbenes Klavier mit einem aufgeschlagenen Kirchenliederbuch und einer Reihe gerahmterFotos. Ich ging hinüber und sah mir die Bilder an, immer noch auf der Suche nach der passenden Überleitung.
Ich berührte den ersten Rahmen, der vergoldet und in allen vier Ecken mit Trauben verziert war. Es war ein Hochzeitsfoto: Mrs Underhill unter einem zarten Schleier in einem weißen Satinkleid mit Schulterpolstern und einer Tolle über der Stirn wie eine der Andrew Sisters. Sie lächelte zu dem schlanken Mann in Uniform auf, ihre Hand anmutig auf seiner linken Brusttasche unter einer Reihe von Auszeichnungen.
»Das ist mein Edward«, sagte sie. »Er hatte eine Woche Heimaturlaub.«
»Sie sehen wunderschön zusammen aus – so glücklich.«
»Das waren wir auch, die wenigen Jahre, die wir hatten. Ich habe ihn sehr jung verloren.«
»Das tut mir leid.«
Die nächsten beiden Fotos zeigten junge Frauen in Talaren und Quastenhüten – beim Highschool-Abschluss –, eine mit der Jackie-Kennedy-Frisur der sechziger Jahre, die andere mit den glänzenden Michael-Jackson-Locken der Achtziger.
Lächelnd. Voller Hoffnung.
»Meine Tochter und Enkelin – Alicia und Angela.«
»Angela ist Teddys Mutter?« Ich wusste nicht, in welcher Zeit ich sprechen sollte.
»Ja. Als Alicia starb, habe ich Angela zu mir genommen.«
Im letzten Rahmen steckte ein weiteres Farbfoto, ein kleiner pummeliger Junge, der strahlend auf dem Schoß des Weihnachtsmanns saß.
Teddy. Von Edward.
»Kommen Sie. Setzen Sie sich, bevor Ihr Tee kalt wird.«
Ich setzte mich auf die Kante eines Sessels und griff nach meiner Tasse.
Mrs Underhill saß bescheiden da, die Beine an den Knöcheln gekreuzt.
Plötzlich hatte ich Sehnsucht nach meiner Mutter, die die Atmosphäre mit ihrem freundlichen Smalltalk aufgeheitert hätte.
Mrs Underhill nahm ihre Tasse, die in ihrer Hand zitterte. Sie trank einen kleinen Schluck, dann setzte sie sie auf dem Schoß ab.
Ich räusperte mich. »Sie haben es sehr gemütlich hier. Leben Sie schon lange in diesem Haus?«
»Vierzig Jahre«, sagte sie.
»Konnten Sie sich die Backsteinfassade aussuchen?«
»Nein, die stammt von unseren Vorgängern. Aber sie hat mir immer gefallen.«
»Ich muss sagen, dass ich sie sehr viel schöner finde als die Wahl Ihres Nachbarn.«
»Dieses Grün! Können Sie das glauben?«
»Minzfrisch«, sagte ich, und sie lächelte mich an.
»Ja, genauso war Gladys – sie hatte es gern lebhaft. Jetzt wohnen ihre zwei Jungs da.«
»Es muss schön sein, seine Nachbarn zu kennen.«
»Manchmal hören sie ein bisschen zu laut Musik«, erklärte sie, »aber sie halten den Vorgarten sauber, und im Winter schippen sie Schnee. Es sind gute Jungs.«
»Kommen Sie aus Queens?«
»Geboren und aufgewachsen. Meine Familie ist seit sehr langer Zeit in New York.«
»Meine auch«, sagte ich.
»Wo genau?«
»Hier auf Long Island, aber ein Stück weiter raus.«
»So, wie Sie klingen, hätte ich nie
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