Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
Teppich.
»Teddy hatte seinen Frieden, Mrs Underhill. Das weiß ich ganz sicher.«
Sie hob den Kopf. Tränen rannen ihr über die Wangen.
»Danke«, sagte sie.
Ich saß zu ihren Füßen und reichte ihr eine Serviette vom Tablett, bevor ich sanft ihre Hand in meine nahm.
Lange saßen wir so da. Es war still bis auf das Rasseln ihres Atems und das hallende Ticken der Wanduhr in der Diele.
»Sie hatten eine Frage«, sagte sie irgendwann. »Was möchten Sie wissen?«
»Es wäre nicht recht, Sie das zu fragen, nicht heute.«
»Meine Trauer wird für den Rest meines Lebens anhalten,daran ändert sich nichts mehr. Ich werde es Ihnen bestimmt nicht übel nehmen, wenn Sie ganz offen mit mir sprechen.«
Sie legte beide Hände um meine Hand.
Ich senkte den Blick, immer noch auf der Suche nach den richtigen Worten.
Diese Frau wollte, dass du hierherkommst. Sie war am Friedhof, um dich aufzuspüren, weil sie dieses Gespräch führen will. Sie will, dass du sie fragst, was sie wusste, damit sie es sich endlich von der Seele reden kann.
»Mrs Underhill«, sagte ich, »ich wollte Sie nach Teddy fragen.«
Ihr Griff um meine Hände wurde fester.
»Sie müssen gewusst haben, dass er misshandelt wurde.«
»Ich wusste es«, sagte sie.
»Haben Sie versucht, es zu verhindern?«
»Ja«, sagte sie, und Tränen liefen ihr über das schmale Gesicht. »Ja, ich habe es versucht.«
Sie schloss die Augen und holte scharf Luft, so viel, wie ihre kleinen Lungen aufnehmen konnten. Als sie das bisschen wieder ausatmete, verdichtete sich ihr Kummer zu einer herzzerreißenden Totenklage.
»Er war noch so klein und hat so leiden müssen«, schluchzte sie.
Ich schlang die Arme um ihren fragilen Körper, spürte, wie beim Weinen alle Spannung von ihr wich.
»Gott vergib mir«, flüsterte sie. »Ich habe nicht genug getan.«
Ich streichelte ihr Haar und drückte sanft ihren Kopf an meine Schulter.
Mit geschlossenen Augen dachte ich an Pagan und an Mom und daran, wie ich einmal ein Fasanenküken aus dem Wasser gefischt hatte und in den Händen hielt, seine Daunen wärmte, als es starb.Ich stand auf der mittleren Stufe der kleinen Treppe vor Mrs Underhills Tür, die Keksdose, die sie mir mitgegeben hatte, unter den Arm geklemmt, die andere Hand hielt sie noch immer umfasst.
»Ich hoffe, Sie kommen wieder.« Da ich eine Stufe unter ihr stand, waren wir auf gleicher Höhe, und sie gab mir ein Küsschen auf die Wange.
»Das werde ich. Und bitte rufen Sie mich an, wenn Sie etwas brauchen. Oder reden möchten.«
»Danke, meine Liebe«, sagte sie und ließ meine Hand los.
Sie schauderte und zog sich die dünne Strickjacke enger um die Schultern, dann knöpfte sie sie bis unten zu, bevor sie sich umdrehte und ins Haus zurückging.
Ich lauschte den Riegeln, die nacheinander zwischen uns vorgeschoben wurden und einschnappten, dann wandte ich mich zur Straße.
Ich ließ mich durch das kleine Tor im hüfthohen Maschendrahtzaun hinaus und schloss es sorgfältig hinter mir.
Nur für den Fall, dass Mrs Underhill heraussah, winkte ich zum Abschied noch einmal ihrem Wohnzimmerfenster zu.
Bei den Nachbarn schloss sich der Spalt zwischen den Spitzenvorhängen flatternd. Doch die Scheibe war noch beschlagen.
23
»Teddy Underhill war im System«, berichtete Skwarecki auf dem Friedhof.
»In welchem System?«, fragte Cate.
»Jugendamt«, sagte Skwarecki. »Drei Monate bevor er getötet wurde, gab es eine Anzeige wegen Kindesmisshandlung.«
»Von Mrs Underhill?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Von einer Nachbarin.«
Einer Fremden.
Ich starrte auf das braune Gras am Boden, enttäuscht und erschöpft.
»Jemand aus LaGuardia?«, fragte Cate.
»Brooklyn«, sagte Skwarecki. »Angela Underhill und ihr Lebensgefährte hatten vorher in East New York gewohnt – zweiter Stock in einem Brownstone. Als sie zusammenzogen, war Teddy ein halbes Jahr alt.«
»Und wie sind sie in dem Motelzimmer in Queens gelandet?«, fragte Cate.
»Ich schätze, sie haben versucht, der zuständigen Sozialarbeiterin aus dem Weg zu gehen.«
»Und der Nachbarin?«, fragte ich.
Skwarecki nickte. »Sie wussten, wer es gemeldet hatte. Ms Keller, die direkt unter ihnen wohnte. Ms Keller hat das SCR angerufen, und das SCR hat die ACS angerufen.«
»Und das steht wofür?«, fragte ich.
»Tut mir leid«, sagte Skwarecki. »Das SCR ist ein landesweites Zentralregister für Kindesmisshandlungs- und Vernachlässigungsfälle. Sie unterhalten Hotlines, entscheiden,welche
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