Der Junge, der Anne Frank liebte
mir hatte sich gegen die Vorstellung gewehrt, aus unserem Fenster auf einen Kastanienbaum zu blicken. Das sagte ich ihr allerdings nicht. Welcher Mann hat schon Vorurteile gegen einen Kastanienbaum? Ich erwähnte nur vage einen Kastanienmehltau und betonte, Mimosen seien exotischer. Meine Frau liebt das Ungewöhnliche. Ich bin der lebende Beweis dafür.
Schmale Waldstreifen trennen die Indian Hills vom Golfplatz des Country Clubs, dem ich, wie dieser Typ von der FirstMutual-Bank vorschlug, beitreten solle. Aber dann fand er heraus, daß meine Frau Jüdin ist. Die Wälder und der Golfplatz sind verkaufsfördernd, doch mir ist der Blick auf die Häuser meiner Nachbarn lieber, besser gesagt, der Blick ins Innere ihrer Häuser. Keiner in Indian Hills läßt in der Küche oder im Wohnzimmer die Rolläden herunter oder zieht die Vorhänge vor. Im ersten Stock ist Privatsphäre erlaubt, doch im Erdgeschoß ist Offenheit gefordert. Meine Frau sagt, es bereitet ihr ein unbehagliches Gefühl, wenn sie aus dem Fenster schaut und eine Nachbarin in der spiegelverkehrten Küche sieht, wie sie Zwiebeln schält oder Eier aufschlägt oder Geschirr spült genau wie sie selbst. Aber ich liebe es, in meinem Haus zu stehen und die Gier in ihren Gesichtern zu sehen, wenn sie ihre blutigen Steaks kauen und ihr tiefgefrorenes Gemüse essen. Ich liebe es, die Selbstzufriedenheit ihrer ungeschützten Mienen zu sehen, wenn sie sich vor dem Fernseher räkeln, und die atemberaubende Unschuld ihrer Umarmungen und Küsse, wenn sie ihren Kindern gute Nacht sagen, sicher, daß es einen nächsten Morgen geben wird.
Als ich da stand und aus dem Küchenfenster schaute, tauchte Jane Wiener hinter ihrem auf. Sie stand an der Anrichte, den Kopf gesenkt, ihre kindlich schmalen Schultern bewegten sich, während sie arbeitete. Sie hob einen Arm, um sich die glatten, schwarzen Haare aus der Stirn zu schieben, und schaute mit ihren großen, dunklen Augen hinaus auf den Vorplatz. Plötzlich verzog sich ihr feinknochiges Gesicht zu einem Lächeln, über etwas Lustiges oder ein kleines Glück, und ich stellte mir, obwohl ich sie auf diese Entfernung nicht sehen konnte, ihre Grübchen vor.
Warum soll ich immer lachen?
Weil das hübsch ist. Du bekommst dann Grübchen in die Wangen.
Ich mag Jane, obwohl ich sie nicht besser kenne als die anderen Frauen der Straße, das heißt, nicht sehr gut. Doch aus irgendeinem Grund fühle ich mich zu ihr hingezogen.
Ich drehte den Wasserhahn zu, durchquerte den Raum und stieg die paar Stufen hinauf zur oberen Diele. Als ich näher kam, hörte ich Quietschen und Gekicher und die Stimme einer Frau, die ein bißchen falsch summte. »Mein Schiff hat Segel, aus Seide gemacht«, wurde lauter. »Was für eine Mutter singt ihren Kindern Kurt Weill vor?« hat meine Schwiegermutter gefragt. Eigentlich meinte sie: Was für ein Mädchen heiratet einen Greenie, von dem sie nichts weiß, einen Fremden, der trotz der Nummer auf seinem Arm genausogut ein Dieb oder ein Mörder oder ein Nazi sein könnte, schließlich wissen wir, was manche taten, um zu überleben. Dabei hat meine Schwiegermutter keine Ahnung, was manche taten, um zu überleben, doch das ist nicht der Punkt. Sie möchte etwas über mich erfahren.
Ich öffnete die Tür zum Badezimmer. Meine Frau kniete vor der Wanne, mit dem Rücken zu mir, ihre blassen Fußsohlen entblößt. Wie kann sie nur so herumlaufen und ihre verletzliche Haut Glas und rostigen Nägeln und hundert verborgenen dummen Fallen aussetzen? Mein Blick glitt über ihre schmalen Beine, die herausfordernden Beine einer Tänzerin, zu ihren violetten Shorts, die ihren Hintern in eine reife Pflaume verwandelten. Meine Hand bog sich dieser Form entgegen.
Hinter ihr planschten entzückt zwei seifige, sonnenbraune Körper. Meine ältere Tochter stand auf und streckte mir die Arme entgegen, rutschte aus und verschwand wieder in der Wanne. Ich sprang nach vorn. Der Arm meiner Frau, braun und voller Schaum wie die Körper der Mädchen, senkte sich hinein und zog Abigail wieder ins Blickfeld, aus ihren Haaren lief Wasser, ihr Mund war zu einem lauten Gelächter geöffnet.
»Dad-dy, Dad-dy, Dad-dy!« Betsy kreischte wie eine Sirene. Nein, wie der Ton einer Entwarnung.
Meine Frau drehte sich zur Tür um. Die Hitze und die Feuchtigkeit hatten ihre dunklen Haare in eine wilde Wolke verwandelt. Sie schenkte mir ihr milchgenährtes Lächeln.
Das, Dr. Gabor, ist die Definition von
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