Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
Vom Netzwerk:
verbrachte. Ich kann mich an das Ergebnis einer Besprechung im Büro erinnern und alles wiederholen, was gesagt wurde und wer es gesagt hat, ich kann die Materialkosten vom letzten Jahr und dem Jahr davor aufsagen, und ich kann Baubeschreibungen behalten.
     Was mein jetziges Leben betrifft, bin ich Experte. Aber meine frühere Existenz ist ein Geheimnis. Sogar wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, habe ich Schwierigkeiten. Nur manchmal, wenn ich es nicht versuche, wenn ich mit den Kindern spiele oder in meinem Büro sitze oder über Dinge nachdenke, die gar nichts mit der Vergangenheit zu tun haben, explodiert etwas in meinem Kopf, wie die Bomben der alliierten Flugzeuge, die hoch über den Turm der Westerkerk flogen, und ich starre die Welt an, wie ich damals solche Luftangriffe angestarrt habe, scharf und weiß und blendend. Ich höre sogar die Sirenen und rieche die Explosionen. Zum Beispiel vor ein paar Monaten, als wir an der Baustelle ein Feuer hatten und Harry nicht aufhörte, sich über den Gestank zu beklagen. Aber man weiß nicht, wie Feuer riecht, solange man keine brennende Stadt gerochen hat. Das ist die Art, wie Erinnerungen in meinem Kopf aufblitzen. Doch bevor ich sie festhalten kann, wird die Welt wieder dunkel, wie es bei den Luftangriffen war. Ich weiß bestimmte Fakten aus meinem Leben, ich kann sie sogar der Reihe nach aufzählen, weil sie sich so und nicht anders abgespielt haben müssen. Aber ich habe keine richtige Erinnerung daran, wann die Dinge passiert sind und wo sie passiert sind oder ob sie mir oder jemand anderem passiert sind. Ich wurde vor sechs Jahren in einer Zollhalle am Hudson River geboren. Ich wurde empfangen ein Jahr davor, in einer von Blitzen erhellten Nacht in einer nach Mist stinkenden Scheune irgendwo in Deutschland. Jedwede frühere Existenz ist ein Gerücht, das ich überhöre. Statt Erinnerungen habe ich Instinkte, statt einer Vergangenheit habe ich diese unerklärliche, krank gewordene, vollkommen außergewöhnliche Gegenwart.

DREI

    Andere glauben, daß eine Displaced Person
    ein menschliches Geschöpf ist, was sie nicht ist,
    und das gilt besonders für die Juden,
                         die niedriger sind als Tiere… eine untermenschliche Spezies ohne jede kulturelle
    oder soziale Verfeinerung unserer Zeit.
    General George S. Patton

    Zwölf Menschen im Stadtgebiet von New York sind auf Grund der Hitze gestorben, ein Arbeiter brach wegen Dehydratation zusammen, doch endlich änderte sich das Wetter, und ich ging weiterhin zu Dr. Gabor. Hatte ich denn eine andere Möglichkeit? Ich konnte nicht ohne Stimme durchs Leben gehen.
     »Kehren wir zum Krieg zurück«, sagte er bei meinem nächsten Besuch.
     »Ich erinnere mich nicht an sehr viel.«
     »Sie haben gesagt, Sie haben die meiste Zeit in Amsterdam verbracht?«
     Ich nickte.
     »Ihr Vater war bei der Besatzungstruppe?«
     »Ich habe Ihnen gesagt, daß mein Vater Niederländer war. Wir gingen vor dem Krieg zurück, im Juni 1937.«
     »Warum?«
     »Geschäfte.«
     »Und als der Krieg begann?«
     Er würde nicht lockerlassen. Was tat ein Niederländer, der in Deutschland gelebt hatte, während des Krieges in Amsterdam?
     »Ich war in Auschwitz.« Meine Stimme knirschte wie ein Schlüssel, der in einem verrosteten Schloß umgedreht wird.
     Er schaut von seinem gelben Block auf. »Als Wärter oder als Häftling?«
     Dieser verdammte Hurensohn.
     »Als Häftling.«
     Der Hurensohn blinzelte. Die Bilder rückten sich zurecht, wurden zu einem Blick. So etwas hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Der Krieg war seit sieben Jahren vorbei. Ich war nicht der einzige, der ihn unbedingt vergessen wollte. Doch es gab eine Zeit, da kannte ich diesen Blick so gut wie meinen Handrücken oder die Nummer auf meinem Arm. Der Blick war voller Mitleid und Scham. Und dazu Abneigung. Er haßte mich nicht, wie er es bei der Vorstellung getan hätte, ich hätte Juden verhaftet und Niederländer zusammengeschlagen, andererseits mochte er mich aber auch nicht dafür, daß ich dort gewesen war.
      Erinnere dich daran, wo du gewesen bist, was du gesehen hast, es wird dich bei den Menschen nicht beliebter machen.
     »Hatten Sie nicht gesagt, Sie waren in Amsterdam?«
     »Das war ich auch. Bis zum August 1944. Dem vierten August, um genau zu sein. Ich wurde verhaftet und nach Westerbork gebracht, dann nach Auschwitz.«
     »Aus welchem Grund?«
     »Glauben Sie wirklich, die hätten einen Grund

Weitere Kostenlose Bücher