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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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gebraucht?«
     »Wenn man Jude war, nicht, aber wenn man kein Jude war, gab es üblicherweise einen Vorwand. Politische Aktivitäten. Homosexualität.«
     »Das nicht.«
     Er legte seinen Stift hin und lehnte sich im Stuhl zurück. »Politische Aktivitäten?«
     Sie hatten dreißig oder vierzig Widerstandskämpfer zusammengetrieben, doch irgendwie kam heraus, daß unter ihnen ein Jude war. Die SS-Männer polterten durch die Waggons, sie schwangen ihre Gewehre, benutzten ihre Fäuste, schrien, daß man seine Hose runterziehen solle. Nur auf deutsch, was ich mich weigerte zu sprechen oder auch nur zu denken.
     »Politische Aktivitäten«, stimmte ich zu.
     »Erzählen Sie mir davon.«
     Ich zuckte die Schultern. »Ich erinnere mich nicht mehr daran. Ob Sie es glauben oder nicht.«
     »Ich glaube Ihnen. Das ist ein übliches Phänomen bei Menschen, die im Lager waren.«
     »Ich bin nicht wie sie«, krächzte ich.
     »Sie meinen, Sie sind kein Jude?«
     »Ich meine, ich weigere mich, in der Vergangenheit zu leben. Ich spreche nicht darüber. Ich denke sogar nicht daran. Wenn mein Geist rückwärts wandert, bleibt er an der Gangway stehen, über die ich vom Schiff herunter hier ins Land gekommen bin.«
     »Gut, dann erzählen Sie mir davon.«
     Sie könnten es nicht verstehen, Doktor. Sie, der Sie vor dem Krieg mit einem medizinischen Examen hergekommen sind, mit einem Schiffskoffer und mit Ihren Büchern. Oder haben Sie das Gepäck und all die Bücher zurücklassen müssen? Waren Sie Hitler nur um einen Schritt voraus? Aber noch im letzten Augenblick geschafft, Sie schlauer ungarischer Teufel. Für jene von uns, die erst danach gekommen sind, lagen die Dinge anders.
     Die Sonne brannte von einem weißen Himmel und brachte den öligen Fluß zum Glitzern. Möwen kreischten wie verrückte alte Frauen, die Schiffssirene zerriß die salzhaltige Luft, und Menschen riefen sich in einem babylonischen Sprachengewirr etwas zu. Sogar wenn man die Wörter nicht verstand, konnte man die Aufregung verstehen und den Schrecken. Ich war sicher, irgend jemand würde bei diesem Gedränge über Bord gedrückt oder auf der Gangway hinunter zur amerikanischen Erde totgetrampelt werden.
     Noch schlimmer war es in der Zollhalle. Das Rattern der Räder und das dumpfe Aufschlagen der Koffer und die vielen Stimmen ließen die Wände erzittern. Männer bewegten sich durch die Hitze wie Unterwasserschwimmer. Frauen fächelten sich mit Hüten und Handtüchern und Dokumenten Luft zu. Kinder weinten. Ein alter Mann wurde ohnmächtig. Und am fernen Ende der Halle drang ein Strahl Sonnenlicht durch eine Öffnung in der Metallwand. Grelles Licht. Das war Amerika.
     Die Menge waberte. Leute suchten nach der richtigen Warteschlange. Beamte deuteten in die eine Richtung, leiteten in die andere und riefen nach Dolmetschern. Freiwillige von einem Dutzend verschiedener Wohltätigkeitsorganisationen versuchten zu helfen, verloren die Geduld und schrien die erschrockenen Menschen an, daß sie doch nur gekommen seien, um zu helfen. Ich fand meinen Platz am Ende einer Warteschlange. Sie bewegte sich ein paar Zentimeter vorwärts und blieb dann wieder stehen, als Männer und Frauen in ihren Taschen und Mappen oder im Futter ihrer Mäntel, die viel zu schwer für diesen heißen Vormittag waren, nach Dokumenten suchten. Plötzlich begann eine Frau zu schreien. Sie suchte ihr Kind. Wo war ihr Kind? Frauen riefen. Männer rannten zu den Öffnungen, die zur Gangway führten, und schauten verzweifelt hinunter in das von den Schiffsmaschinen aufgewühlte Wasser. Ein Aufschrei kam von der anderen Seite des Piers. Hier ist er! Hier ist er! Die Mutter rannte zu ihrem Jungen, hob ihn hoch, setzte ihn nieder, schüttelte ihn, küßte ihn, schüttelte ihn wieder. Die Leute wandten sich ab. Sie hatten genug eigene Sorgen.
     Die Schlange bewegte sich langsam vorwärts. Je länger ich wartete, desto nervöser wurde ich. Immer konnte etwas schiefgehen. Vielleicht waren die Gesetze geändert worden. Papiere, die noch ausgereicht hatten, als das Schiff Bremen verließ, konnten bis zu dem Zeitpunkt, als es in New York anlegte, unzureichend geworden sein. Ich hielt meine Dokumente fest und kontrollierte sie wieder und wieder. Auch auf dem Schiff war ich unfähig gewesen, damit aufzuhören, sie waren bedeckt von den Abdrücken meiner Finger und zerknittert, weil ich sie an meinem Körper getragen hatte. Der Identitätsausweis statt eines Reisepasses sah am schlimmsten

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