Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
Vom Netzwerk:
schnell vorwärts, trotz der Schmerzen in meinem Knöchel. Es gab nur wenige Züge um diese Zeit, und selbst wenn einer jetzt käme, würde ich ihn von weitem hören und die Lichter sehen, trotzdem war es nicht besonders intelligent, das zu tun, was ich tat, nicht für einen Ehemann und Vater, für niemanden.
     Eine weitere Ratte glitt durch den Lichtstrahl. Ich folgte ihr mit der Taschenlampe, bis sie in einem Loch unter dem Bahnsteig verschwand. Als ich das Licht wieder auf das Gleis richtete, war das Buch weg. Ich bewegte die Taschenlampe suchend im Kreis. Der lange weiße Lichtstrahl durchschnitt die Dunkelheit, tanzte. Verdammte Ratte. Verdammtes Buch. Ohne dieses Buch wäre ich jetzt zu Hause im Bett mit meiner lesenden Frau neben mir und meinen schlafenden Töchtern auf der anderen Seite des Flurs. Das Licht glitt an einer Schiene hinauf, an der anderen herunter, hüpfte über die Schwellen, erklomm den Rand des Bahnsteigs, kroch langsam zurück und kam ein paar Zentimeter vor mir zur Ruhe. Die schwarzen Augen starrten mich an. Wo bist du gewesen, Peter? Ich habe auf dich gewartet.
     Ich ergriff das Buch. Durch den Schmutz und die Schlacke fühlte es sich schmierig an, als sich meine Finger darum schlossen. Ich überquerte die Gleise. Das Licht tanzte über die Schienen.
     An der Bahnsteigkante legte ich das Buch und die Taschenlampe ab, um meine Arme frei zu haben, drückte meine Handfläche auf dem Rand nach unten und stemmte mich hoch. Ich streckte die Arme, machte sie steif und schwang meine Beine nach oben, aber der Bahndamm war höher, als ich gedacht hatte. Mein Knie schlug gegen den Beton. Meine Beine gaben nach, und ich stürzte auf die Gleise. Ich stellte mir Betsy vor, wie sie sich in ihrem Bettchen zusammenrollte, und Abigail, wie sie mit ihrem weichen Ärmchen ihren Teddy umklammerte. Ich sah, wie Madeleine einen Blick auf die Uhr warf.
     Wieder streckte ich meine Arme, machte sie steif, schwang meine Beine nach oben, und wieder stürzte ich. Es waren noch drei weitere Versuche nötig, bis ich auf dem Bahnsteig landete. Meine Hände waren zerkratzt und blutig, und meine Knie und Schienbeine taten weh von den Schlägen gegen den Beton. Als ich wieder im Auto saß, sah ich, daß eines meiner Hosenbeine zerrissen war.
     Ich legte das Buch zurück ins Handschuhfach. Vorläufig war das in Ordnung.
     Als ich zu Hause ankam, saß Madeleine im Bett und las. Sie hob den Blick von den Seiten, bemerkte meine blutenden Hände und die zerrissene Hose und fragte, was um Himmels willen passiert sei. Ich erzählte ihr, ich wäre die Treppe vom Gebäude zum Parkplatz hinuntergefallen. Sie fragte, was mit der Taschenlampe sei, die ich mitgenommen hatte. Ich sagte, die Batterie sei leer geworden. Ich hatte schon so viel gelogen, da spielten diese kleinen Lügen wirklich keine Rolle mehr.

    In der folgenden Woche brachte ich das Buch von einem Platz zum nächsten. So wie zuvor die Untergetauchten heimlich von Kellern zu Kammern und Höhlen schlichen, wenn ihre Helfer Angst bekamen oder Nachbarn mißtrauisch wurden oder ihnen das Schweigegeld ausging, so fand ich jetzt immer neue Verstecke für meine Last. Ich brachte das Buch vom Handschuhfach meines Autos oben ins Wohnzimmerregal, wo nur ich drankam, ich versteckte es hinter meiner Werkbank im Souterrain. Ich schloß es im Safe hinter dem Wäscheschrank ein. Der Safe war nicht groß, es gab kaum genügend Platz für das Buch, den Reisepaß und den Pappumschlag mit Bargeld, die ich dort aufbewahrte. Ich holte es wieder heraus, weil ich nicht wollte, daß es die anderen Dinge infizierte. Ich schloß es in meinem Büro ein, in der obersten Schreibtischschublade. Ich hatte nicht die Absicht, es zu lesen, aber ich konnte auch nicht von ihm lassen.
     Dennoch folgte es mir überallhin. Es war mir gelungen, es nicht zu bemerken, als es auf dem Nachttisch auf der anderen Seite des Bettes, in dem ich schlief, lag. Die Werbung und die Besprechungen waren meiner Aufmerksamkeit entgangen, weil ich diesen Teil der Zeitung nie anschaute. Doch nun, da ich von dem Buch wußte, konnte ich ihm nicht entkommen. Auf der Straße sah ich Frauen, die es an die Brust gedrückt trugen, als wäre es ein Orden. Hinter der Kasse in dem Lokal, in dem Harry und ich manchmal zu Mittag aßen, schaute das Mädchen von dem Buch auf, vorwurfsvoll, weil wir sie störten, um unsere Rechnung zu bezahlen. Und als ich eines Nachmittags mein Büro verließ, sah ich aus dem Augenwinkel Annes Gesicht,

Weitere Kostenlose Bücher